SOS-Kinderdörfer, so die Idee, sollen jungen Menschen in Not ein behütetes Zuhause geben. Doch eine Untersuchung zeigt: Auch in diesen Einrichtungen kam es über die Jahre zu Übergriffen und Missbrauch.
In den SOS-Kinderdörfern ist es in den vergangenen Jahrzehnten zu Unrecht, Machtmissbrauch und Grenzüberschreitungen gekommen. Das geht aus einem am Mittwoch vorgelegten Abschlussbericht einer unabhängigen Aufarbeitungskommission hervor. Diese war vom Vorstand des Vereins vor zwei Jahren eingesetzt worden.
Für den Zeitraum von 1976 bis Juni 2023 nennt die Kommission 189 Meldungen zu Grenzüberschreitungen. Bei gut der Hälfte handle es sich um “körperliche Übergriffe”, “emotionale Übergriffe” oder die “Verletzung der Privatsphäre”. 47 Prozent handelten von “sexuellen Übergriffen”. In den untersuchten Meldungen seien in 49,7 Prozent die Unrechtshandlungen von Mitarbeitenden des Vereins ausgegangen, in 19,6 Prozent von anderen betreuten jungen Menschen, in 6,9 Prozent von Erwachsenen, die nicht bei SOS-Kinderdorf arbeiteten. 1,1 Prozent seien Meldungen von Selbstgefährdung von Betreuten gewesen.
Die Vorstandsvorsitzende des Vereins, Sabina Schutter, erklärte: “Wir sind zutiefst erschüttert über die Vorkommnisse und bitten alle Betroffene aufrichtig um Entschuldigung. Wir haben nicht immer gut genug hingehört, nicht alle Beschwerden ernst genommen und nicht angemessen reagiert.” Zugleich dankte sie den Betroffenen, dass sie sich an den Verein oder die Kommission gewandt hätten. Mit dem Bericht sei die Aufarbeitung noch nicht abgeschlossen: “Wir werden jeder Meldung von Unrecht, die uns zur Kenntnis gebracht wird oder wurde, schnell und umfassend nachgehen und im Sinne der Betroffenen handeln. Denn jeder Fall ist einer zuviel”, versicherte Schutter.
Der gut 160 Seiten lange Bericht hält fest, dass sich der Verein bereits Anfang der 2010er-Jahre zu Unrechtshandlungen bekannt und dafür öffentlich entschuldigt habe. Er habe sich auch dazu entschieden, Anerkennungszahlungen zu leisten, zunächst nur für erlittene sexualisierte Gewalt, 2021 dann auch für körperliche und psychische Gewalt. Dabei habe es aber an Transparenz und Verbindlichkeit gegenüber den Betroffenen gefehlt.
Die Höhe habe sich an den damals vom Runden Tisch Heimerziehung gewährten Beträgen (2.000 bis 4.000 Euro) orientiert. Zwar habe es 2021 den Versuch gegeben, die Höhe aufzustocken; dies sei allerdings nicht abschließend entschieden worden. Dennoch sei es in Einzelfällen zu Zahlungen in Höhe von 10.000 und 35.000 Euro gekommen. Auf der Basis eines externen Gutachtens zu Anerkennungsleistungen anderer Träger habe die Kommission einen gestuften Katalog empfohlen. Dieser habe für besonders schwere Fälle Zahlungen von bis zu 90.000 Euro vorgesehen. Der Vorstand der SOS Kinderdörfer sei dem aber nicht gefolgt, “weil weitere Entwicklungen in diesem Bereich abgewartet werden sollten”.
Der Vorsitzende der Aufarbeitungskommission, der Bielefelder Erziehungswissenschaftler Klaus Schäfer, betonte: “Grenzverletzungen und Übergriffe gegenüber den anvertrauten Kindern hat es bei SOS-Kinderdorf nicht nur in der Vergangenheit gegeben, sondern auch in der jüngeren Zeit bis heute.” Die Aufarbeitung müsse weitergehen. Wichtig dabei sei, den Betroffenen mitfühlend zu begegnen und sie mit einzubeziehen.