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250 Jahre nach dem letzten Hexenprozess leben Mythen medial weiter

Auch 250 Jahre nach der Hexenverfolgung fesseln Geschichten über Frauen mit magischen Kräften die Massen. Sie haben Jahrhunderte des medialen Wandels überdauert – und erfinden sich auch heute wieder neu.

“Eene meene Mai, flieg los, Kartoffelbrei.” Seit den Achtzigerjahren schwirrt dieser Zauberspruch durch deutsche Kinderzimmer. Brigitte “Bibi” Blocksberg ist 13 Jahre alt und eigentlich ein ganz normaler Teenager – wären da nicht ihre Zauberkräfte, mit denen sie etwa ihrem Besen, der auf den Namen Kartoffelbrei hört, das Fliegen befehlen kann.

Die Hörspielreihe über die junge Hexe ist ein riesiger Erfolg – und das mit einer mythischen Figur, an der in der Vergangenheit so gar nichts Spaßiges war. 250 Jahre ist es her, dass in Deutschland der letzte Hexenprozess zu Ende ging. Über Jahrhunderte hinweg waren Frauen verfolgt und getötet worden, wenn ihnen magische Kräfte unterstellt wurden.

In Europa mag die Hexenverbrennung der Vergangenheit angehören; das Phänomen der Hexerei versprüht aber weiter eine ungemeine Faszination, die sich in Medien und Popkultur niederschlägt. Angefangen mit Shakespeare und den Gebrüdern Grimm, bei denen Hexen meist noch durchtriebene, gruselige Frauen waren, über harmlose, niedliche Hexen wie Bibi Blocksberg oder “Die kleine Hexe” von Otfried Preußler, bis hin zu Mega-Hits wie der Harry-Potter-Reihe: In der Popkultur ist und bleibt Hexerei dauerpräsent.

Der Mythos werde heute sehr unterschiedlich gesehen, berichtet Meret Fehlmann, die an der Universität Zürich zu Populären Kulturen in Verbindung mit den Themen Hexen und Matriarchat forscht: “Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts haben die Hexenprozesse im gesamteuropäischen Raum aufgehört. Seitdem beobachten wir eine deutliche Veränderung des Hexenbildes.”

Als unheimliche Figur ist die Hexe ein beliebtes Grusel-Kostüm zu Halloween oder Karneval. Der Begriff wird auch heute noch als Schimpfwort für Frauen verwendet – oft für jene, die eine starke Stimme haben.

Gerade in Europa, wo die Verfolgung angeblicher Hexen über Jahrhunderte besonders schlimm tobte, ist der Umgang mit dem Mythos aber deutlich entspannter geworden. Spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts hat sich die Behandlung des Themas laut Fehlmann in drei große Stränge aufgespalten, die man bis heute beobachten kann: “Eine Deutung von Hexen hat unterstellt, dass es durchaus recht gewesen sei, was mit den Hexen passiert ist, weil sie eben doch mit dem Teufel im Bunde stehen könnten. Eine andere besagte, dass das ganze Thema Magie alles Humbug war und Hexen einfach nur Opfer der Strafverfolgung waren.”

Einer dritten Deutung zufolge könnten die verfolgten Frauen Zugang zu altem, heidnischen Wissen gehabt haben, also eher Heilerinnen als Hexen gewesen sein. Diese unterschiedlichen Vorstellungen haben sich Fehlmann zufolge im Laufe der Zeit immer wieder vermischt – und speisen bis heute die populären Hexenerzählungen.

Der Mythos Hexe wird immer wieder von verschiedenen Interessensgruppen vereinnahmt, die ihre ganz eigenen Vorstellungen und Wünsche in die Hexerei hineinprojizieren. So habe sich beispielsweise die US-Frauenrechtsbewegung vom Idealbild der selbstbestimmten Frau inspirieren lassen und das Bild der Hexe aufgegriffen, berichtet Fehlmann. Populäre Filme und Serien wie “Charmed – Zauberhafte Hexen” hätten ab den 1990ern ein modernes Frauenbild zu vermitteln versucht, sagt die Expertin: Hier seien Hexen auch plötzlich wieder glamourös und verführerisch aufgetreten – ein Bild, das unter negativen Vorzeichen auch schon zu Zeiten der Hexenverfolgung transportiert worden war.

Auch der Medienwandel hat das Hexenbild stark geprägt. Erst die Erfindung des Buchdrucks machte die flächendeckende Verbreitung von Hetzschriften wie dem sogenannten Hexenhammer möglich – und damit auch das Ausmaß der Hexenverfolgung in Europa. In Volksmärchen hielt sich das Bild der bösen Hexe noch lange. Dass der Mythos überhaupt derart präsent blieb, daran habe die Wirkmächtigkeit des Mediums Film im 20. Jahrhundert entscheidenden Anteil gehabt, ist Fehlmann überzeugt.

Im Zeitalter des Internets haben wiederum Medien mit dazu beigetragen, dass “Hexe” von einer Fremdbezeichnung zu einer Selbstbezeichnung wurde: “Als in den 90er Jahren das Internet erstmals als Massenphänomen auftrat, waren auch Frauen, die sich selbst als Hexe bezeichneten, sehr angetan von diesem neuen Medium”, erklärt Fehlmann. Man habe sich über weite Distanzen virtuell treffen und Gleichgesinnte finden können, selbst wenn man zum Beispiel in einem sehr konservativen Umfeld wohnte, wo niemand wissen durfte, dass man solche Interessen hat.

Auf der besonders bei jungen Menschen beliebten Kurzvideoplattform Tiktok gibt es heute eine kleine Community, die sich selbst “WitchTok” nennt und auf der sich selbsternannte Hexen präsentieren und vernetzen.

Wie passt das in eine Gesellschaft, die eher auf belegbarem Wissen basiert? Eine mögliche Antwort findet sich in einem Kulturprodukt: Der Roman “Der Aufstieg und Fall des D.O.D.O.” von 2017 erzählt von einer fiktiven Geheimbehörde der US-Regierung, dem “Department of Diachronic Operations”. Diese hat herausgefunden, dass es Magie in der Vergangenheit tatsächlich gegeben hat. Durch den wissenschaftlichen Fortschritt war sie aber immer schwächer geworden, bevor sie durch die Erfindung der Fotografie – noch so ein Meilenstein im Medienwandel – ganz verschwand.

Die Hexen sind im Roman aber noch da, obwohl sich viele ihrer Fähigkeiten nicht mehr bewusst sind. Mithilfe von ein wenig fiktiver Quantenphysik, die den Eindruck von Wissenschaftlichkeit verstärken soll, und den wiederentdeckten Hexen schickt die Behörde schließlich ihre Mitarbeiter in der Zeit zurück, wo sie die Magie wieder zum Leben erwecken und in die Gegenwart mitbringen sollen. Die Autoren Neal Stephenson und Nicole Galland tragen die Hexen also vom Fantasy-Genre in die Science-Fiction – und liefern damit ein mediales Abziehbild für einen modernen Hexen-Mythos in aufgeklärten Zeiten.