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15 000 Namen für Europa

In Zeiten von Brexit und Grenzschließungen hält der „Platz des Europäischen Versprechens“ in Bochum die Idee des gemeinsamen Europas hoch. Ein halbes Jahr nach der Eröffnung ist Alltag eingekehrt

Friedrich Stark

Rozhynska steht neben Schneider, Sengül in einer Reihe mit Ullrich. Aus den 14 723 Namen von Europäern, die in den Boden am „Platz des Europäischen Versprechens“ eingraviert sind, ist eines besonders herauszulesen: Vielfalt. Die 185 000 Buchstaben sind mit weißem Epoxydharz in 63 dunkelgraue Basaltplatten auf den Platz vor der Bochumer Christuskirche gegossen.

Versprechen sind nicht niedergeschrieben

Es ist ein Monument aus den Versprechen von Menschen aus ganz Europa: Hinter jedem Namen steht ein ganz persönliches Ehrenwort gegenüber Europa. Ob es um eine Zusicherung von Toleranz und Zusammenhalt geht oder einfach um Fußball, wie es bei dem Versprechen von Nationaltorwart Manuel Neuer laut Medienberichten der Fall war – von Utopien bis hin zu ganz alltäglichen Dingen kann sich alles hinter diesen Namen verbergen. Niedergeschrieben sind die Versprechen nirgends. Sie existieren nur in den Menschen, die ihre Namen dafür auf dem Platz verewigen ließen.
Die Idee stammt von Konzeptkünstler Jochen Gerz. Er und seine Mitarbeiter haben Leute auf der Straße gefragt, ob sie ein Versprechen geben wollen und dafür ihren Namen für den Platz zur Verfügung stellen. Außerdem wurden Vereine, Gemeinden und Universitäten in ganz Europa kontaktiert.
„Jeder Name ist wie ein verschlossener Koffer“, sagt Gerz, der auch Plätze und Monumente in Paris, Hamburg oder Dublin gestaltet hat. „Man fragt sich, was ist drin in diesem Koffer, und beginnt zu überlegen.“ Wer sind diese 14 723 Menschen? Wie lauten ihre Versprechen? Was würde ich versprechen? „Man wird die Antwort nicht bei anderen finden, man wird sie bei sich selbst suchen“, sagt der 76-jährige Gerz.
Ereignisse wie der Brexit oder die Grenzschließungen innerhalb Europas als Reaktion auf die Ankunft von Flüchtlingen schlagen derzeit Risse ins Ideal der europäischen Idee. „Der Platz ist eine Bestätigung dafür, dass jeder Einzelne sich engagieren kann und eine eigene Verantwortung für die Demokratie und die europäische Zukunft trägt“, sagt der in Irland lebende Künstler. „Manchmal vergessen wir heute, dass der Frieden der vergangenen 70 Jahre keine Selbstverständlichkeit ist.“
1940 in Berlin geboren, hat Gerz selbst noch den Zweiten Weltkrieg erlebt. Der Platz steht deshalb nicht nur im Bezug zur aktuellen Situation Europas, sondern schlägt auch einen Bogen zum Europa des vergangenen Jahrhunderts. Wie ein Spiegelbild der Namen draußen auf dem Platz stehen 1358 Namen von gefallenen Bochumer Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg auf Mosaiken an den Wänden der Kapelle im Turm der Christuskirche.

Im Herzen der Stadt – und doch ein toter Winkel

Eingeweiht wurde der Raum im Jahr 1931 – Bochum war gerade Gauhauptstadt der Nazis geworden. Eine Erklärung, warum in der Kirche auch 28 Länder als „Feindstaaten“ betitelt werden, darunter Polen, Griechenland oder Italien. Der Platz wurde im Dezember 2015 eröffnet. Er liegt im Herzen der Stadt – und doch in einem toten Winkel, abgeschirmt vom Rathaus. Hier findet, abgesehen von Kultur-Veranstaltungen der Kirche, wenig städtisches Leben statt.
Der Pfarrer der Christuskirche, Thomas Wessels, hat den elfjährigen Entstehungsprozess begleitet. Neben der Stadt und dem Land Nordrhein-Westfalen gehörte auch die evangelische Christuskirche zu den Auftraggebern. Nachdem Bochum im Jahr 2009 eine Haushaltssperre verhängt hatte, stand die Finanzierung lange auf der Kippe. Rund 3,3 Millionen Euro kostete das Projekt.
Wessels setzte sich für eine Vollendung ein. Angesichts der heutigen Nutzung des Platzes wirkt er etwas desillusioniert. „Es hat mich etwas irritiert, wie schnell ein solcher Platz zurücksinken kann in die Gleichgültigkeit des Ruhrgebiets, hier muss sich Bedeutung täglich neu behaupten“, sagt Wessels. Aber er ist zuversichtlich. Bevor der Raum um die Kirche zum „Platz des europäischen Versprechens“ wurde, war er als hässlichster Ort der Stadt bekannt – eine Mischung aus Kirch- und Parkplatz, Hinterhof und Asphalt-Flickenteppich. Wenn es dunkel wird, wirkt der Platz surreal: Abends wird er blau erleuchtet.
Für die nächsten Jahre sei der Abriss einiger Verwaltungsgebäude rund um den Platz geplant, sagt Wessels. Für den Pfarrer markiert die Fertigstellung des Platzes den Beginn eines neuen Quartiers.