Joachim Gerhardt ist Gemeinde- und Pressepfarrer in Bonn und zweiter Vorsitzender des Vereins „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“. Gegenüber UK-Herausgeber Bernd Becker erzählt er, worum es in diesem Festjahr geht.
Wie kam es zu der Idee, 2021 dieses Festjahr zu feiern?
Es war schon lange bekannt, dass die jüdische Gemeinde in Köln bereits im Jahr 321 n. Chr. in einem Edikt von Kaiser Konstantin erwähnt wird. Das ist das älteste Zeugnis jüdischen Lebens in Deutschland oder sogar in Europa nördlich der Alpen. Bei Führungen in Synagogen wurde schon immer von diesem Datum berichtet, aber erst vor einigen Jahren kam der Gedanke auf, es stärker ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Die Idee zu einem Festjahr ist dann zwischen dem ehemaligen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers, dem Theologen Matthias Schreiber und Abraham Lehrer vom Zentralrat der Juden in Deutschland entstanden. In der Folge kam es dann zur Gründung des Vereins. Es ist ja tatsächlich erstaunlich, dass jüdisches Leben schon so lange die Kultur im deutschen Sprachraum prägt. Das Festjahr wird deshalb bewusst nicht als Kölner Lokaltermin gefeiert, denn es ist für unsere gesamte Republik bedeutend. Unsere Projekte werden ja auch mit mehr als 20 Millionen Euro vom Bund und den Ländern unterstützt. Zudem werfen wir einen Blick auf Europa, denn das Datum kann nicht an nationalen Grenzen festgemacht werden. Vielleicht können sich die guten Erfahrungen, die wir gerade in Deutschland mit diesem Festjahr machen, in ein paar Jahren auch in anderen europäischen Ländern wiederholen. Dazu sind wir bereits mit der Antisemitismus-Beauftragten der Europäischen Kommission im Gespräch, die auch Kuratorin in unserem Verein ist.
Wie gerät man gerade als evangelischer Pfarrer in den Vorstand dieses Vereins?
Ich verstehe mein Engagement hier auch im Namen meiner Kirche. Zuvor war ich bereits jahrelang für die Stiftung „Erinnern ermöglichen" ehrenamtlich tätig. Dabei geht es darum, dass möglichst jede Schülerin und jeder Schüler mindestens einmal die KZ-Gedenkstätte in Auschwitz besucht. Aufgrund meiner Erfahrung mit dieser Stiftung und der Erfahrung mit 500 Jahren Reformation und Martin Luther wurde ich von jüdischer Seite angesprochen, ob ich bereit sei, auch bei der Vorbereitung des Festjahres mitzuwirken. Die Feierlichkeiten sollen ja bewusst nicht allein im jüdischen Kontext angesiedelt sein, sondern die gesamte Gesellschaft ansprechen. Darum ist es gut, dass auch unser Verein auf zwei Säulen steht: einer jüdischen und einer nicht-jüdischen. Es ist eben kein Kultusfest, sondern ein Kulturfest für das ganze Land.
Ist es in Zeiten von Corona nicht besonders schwierig, solch ein Festjahr zu begehen?
Natürlich sind auch wir von der Pandemie betroffen, und so mussten wir manche der Programmpunkte verschieben oder ins Internet verlagern. Aber es gibt trotz Corona mehr als tausend Veranstaltungen. Und tatsächlich hoffen wir, das Festjahr über 2021 hinauszuziehen. Der Auftakt mit dem Bundespräsidenten findet jetzt erst einmal nur als Fernsehübertragung statt. Aber ab Sommer bauen wir ganz stark auf Begegnung. Zum Glück haben wir ohnehin nur wenige Großveranstaltungen geplant, sondern viele kleinere Formate. Das kann auch die Kirchengemeinde sein, die einfach einen Gesprächskreis anbietet. Es geht schlicht um Begegnungsmöglichkeiten vor Ort. Ich freue mich zum Beispiel besonders auf das Laubhüttenfest „Sukkot XXL“, das im Herbst stattfindet. Da werden ganz viele Menschen in ihren Vorgärten Laubhütten errichten und Freunde einladen. Das können auch bloß zwei oder drei Nachbarn sein, und schon ist man Teil dieses Projektes. Jede Begegnung, die in diesem Festjahr stattfindet, ist für uns ein Erfolg, unabhängig von der Anzahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Mit den Spitzen der Republik und möglichst vielen Gästen und Freunden wollen wir im Sommer – als Ergänzung zum Auftakt jetzt im Februar – noch ein fröhliches Fest feiern.
Wie sind denn die Reaktionen auf das Festjahr?
Wir erleben einen Zuspruch, der uns tatsächlich sehr überrascht. So viele Menschen sind auf unsere Idee positiv angesprungen – und das auch eng über den Kontext jüdisch-christlicher und deutsch-israelischer Gesellschaften hinaus. Diesen Initiativen müssen wir sehr dankbar sein, weil sie das Thema schon seit vielen Jahren wachhalten. Gleiches gilt auch für die evangelischen Kirchen in NRW, die immer ein Motor für diesen interreligiösen Dialog sind.
Es geht uns aber auch darum, neue Milieus anzusprechen und junge Leute zu erreichen. Dazu gibt es zum Beispiel eine Podcastreihe von jungen Moderatorinnen und Moderatoren, die vom ganz normalen jüdischen Leben erzählen. Daneben wird ein Gastro-Guide erscheinen, was ich selbst ganz großartig finde. Ohne die Essenskultur kann man die jüdische Religion eigentlich gar nicht verstehen. Die jüdische Kultur erzählt sich auch über die Speisekarte. Gunther Hirschfelder, Kulturwissenschaftler an der Uni Regensburg, erstellt gerade dieses spannende Buch. Zudem fährt im Sommer ein Begegnungsbus durch die Republik. Er wird auf Marktplätzen stehen und ein Kulturprogramm bieten, besonders auch an den Orten, wo es keine Synagogen-Gemeinden gibt.
In der vergangenen Jahren hat der Antisemitismus in Deutschland wieder deutlich zugenommen. Welche Rolle spielt das Thema im Verein?
Wir sind sehr wachsam und nehmen natürlich auch wahr, dass die jüdischen Gemeinden die Bedrohung hautnah erleben. Das ist wirklich erschreckend. Es gibt da tatsächlich einen Dammbruch, der auch durch die neue politische Kultur in unserem Land möglich wurde. Die jüdische Gemeinde hier in Bonn bekommt zum Beispiel wöchentlich Hass-Mails, das ist schon erschreckend. Ich selbst gehe als Pfarrer mit meinen Konfirmandinnen und Konfirmanden jedes Jahr in die Synagoge und wir sprechen über diese Themen. Ich bitte die Jugendlichen dann, sich vorzustellen, ihre Konfirmation könne nur unter Polizeischutz gefeiert werden. So bekommen sie ein Gefühl dafür, was es heißt, tagtäglich bedroht zu werden. Ich sehe das Festjahr durchaus als Chance, Menschen zu sensibilisieren, die dem Thema bisher noch gleichgültig gegenüberstehen. Da haben wir gerade in den Kirchen eine wichtige Aufgabe und Verantwortung. Wir haben die Unheilsgeschichte des Antisemitismus wesentlich mitgeschrieben. Der Satz „Die Juden haben Jesus ans Kreuz geschlagen“, der theologisch gar nicht haltbar ist, wurde viele Jahrhunderte lang von den Kirchen vertreten. Und es gab auch ein Versagen bei der Shoa. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es allerdings dann zu sehr ermutigenden Entwicklungen im deutsch-jüdischen Dialog, gerade auch im Rheinland und in Westfalen. Darauf dürfen wir uns allerdings nichts ausruhen. Wir müssen jeder Generation neu erklären, dass man den christlichen Glauben ohne seine jüdischen Wurzeln nicht verstehen kann. Und deshalb wollen wir jetzt gerade als Kirche ein Motor dafür sein, dass das Festjahr ein Erfolg wird.
Spielt Israel bei den verschiedenen Veranstaltungen auch eine Rolle?
Die Botschaft „Jüdisches Leben in Deutschland ist uns wichtig“ soll auch als Signal in die Welt gesendet werden. Über jüdisches Leben in Deutschland können wir allerdings nicht sprechen ohne Israel. Das habe ich bei den Vorbereitungen auch noch einmal gelernt. Wir bauen mit dem Festjahr Brücken in die ganze Welt, wesentlich aber nach Israel und in die USA. Israel ist für die Juden ein ganz besonderer Ort, dort sind die Wurzeln ihrer Religion. Abraham Lehrer, Vorstand der jüdischen Gemeinde Köln, Vizepräsident des Zentralrats der Juden und ganz wesentlicher Teil unseres Teams, sagt : „Juden in Deutschland sitzen zwar noch nicht auf gepackten Koffern, wir wissen aber immer, wo die Koffer stehen.“ Das ist eine ernst zu nehmende Haltung der jüdischen Menschen im ganzen Land. Wir hoffen, dass die Veranstaltungen, die gerade zu diesem Thema geplant sind, auch nach 2021 noch stattfinden können. Zurzeit sind ja leider keine Reisen zwischen Deutschland und Israel möglich. Aber das Programm reicht für uns durchaus über das Kalenderjahr hinaus.