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„Wir machen uns mit anderen auf die Suche“

Seit etwas über einem Jahr ist Christian Stäblein der Propst der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Im Gespräch mit Amet Bick und Constance Bürger spricht er über den Säkularisierungsprozess, neue Aufgaben für die Theologie und warum es wichtig ist, nicht nur auf 2017 hinzuarbeiten, sondern dann auch richtig zu feiern.

Seit etwas über einem Jahr ist Christian Stäblein der Propst der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Im Gespräch mit Amet Bick und Constance Bürger spricht er über den Säkularisierungsprozess, neue Aufgaben für die Theologie und warum es wichtig ist, nicht nur auf 2017 hinzuarbeiten, sondern dann auch richtig zu feiern.

Propst Stäblein, als „die Kirche“ Sie vor einem Jahr interviewte, sagten Sie, Sie möchten zuallererst die Landeskirche kennenlernen. Ist Ihnen das gelungen?

Ich bin an ganz vielen Orten gewesen, gerne und zu den verschiedensten Anlässen, meist Vorträge oder Gottesdienste. Tatsächlich habe ich die meisten Kirchenkreise besuchen können. Dadurch habe ich ein Gefühl für die Weite und die Größe dieser Kirche und ihre Verschiedenheit bekommen. Meine Sehnsucht hat sich also ein ganzes Stück erfüllt.

Sie kommen aus der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannover. Konnten Sie Unterschiede feststellen?Ich nehme wahr, dass die Herausforderung, hier in Berlin, Brandenburg und der schlesischen Oberlausitz sichtbar Kirche zu sein, eine große Aufgabe ist. Mir fällt immer wieder auf, dass die Menschen sehr auskunftsfähig sind, was ihren Glauben betrifft. Das mag mit der Bekenntnistradition zusammenhängen, mit der Präsenz und Bedeutung der Barmer Theologischen Erklärung, mit der Geschichte der Kirchen in der DDR, mit dem langen Säkularisierungsprozess – vermutlich von allem etwas. Auf jeden Fall scheint es mir eine große Stärke zu sein, dass die Menschen sich und anderen vor Augen führen, woraus sich ihr Glaube schöpft. Etwa wenn um Fragen der Energiegewinnung hier und der Bewahrung der Schöpfung dort gerungen wird. Vor der Sommerpause durfte ich einen Tag die Gebiete des Braunkohletagebaus besuchen, nach der Sommerpause einen Gedenkgottesdienst in Schleife, das war sehr eindrücklich für mich.

Was haben Sie erlebt, als Sie in den Kirchengemeinden unterwegs waren? Ich habe an schönen Gottesdiensten in Brandenburger Dorfkirchen mitwirken können. Beispielsweise: der Festgottesdienst 600 Jahre Wallfahrtskirche in Tremmen. Oder: im Rahmen der Predigtreihe „Fremde“ ein Gottesdienst in der Dorfkirche in Roskow. Die Vielen, die da kommen, kommen auch mit der Frage: Welche Bedeutung hat diese Kirche für unseren Ort? Gern denke ich an den Havelländischen Kirchentag in Falkensee Anfang Juli, wo Politiker, Vertreter von Kirche und Initiativen diskutierten, wie wir die Frage der Integration von Flüchtlingen angehen. Da wurde Kirche in einer beeindruckenden Weise sichtbar.

Nun fällt die Kirchenmitgliederzahl bald unter die 1-Millionen-Marke. Schreckt Sie das?Ich nehme voller Respekt wahr, dass Menschen ihre eigenen Entscheidungen treffen. Das ist richtig so, wir wollen nicht in einer Gesellschaft leben, in der es anders ist. Aber die fallenden Kirchenmitgliederzahlen treiben mich um, es macht mir Sorgen. Der Säkularisierungsprozess, der als großer Rahmen hinter der Entwicklung mitläuft, hat ja nicht gestern begonnen, sondern vor gut zwei Jahrhunderten. Wir müssen mit dieser Entwicklung umgehen und können nicht davon ausgehen, dass sich der Trend so einfach von selbst umkehrt.

Aber die Hoffnung, er könnte sich umkehren, haben Sie?Ich habe das Vertrauen, dass Gott diese Kirche leitet. Ich fände es vermessen zu sagen: Wir werden diesen Trend umkehren, indem wir dieses oder jenes tun oder initiieren. Dann setzt sich Kirche unter einen problematischen Leistungsdruck, gepaart mit Hochmut. Das ist mir sowohl theologisch als auch soziologisch zu simpel. Dazu gehört umgekehrt aber auch, deutlich zu sagen: Was wir tun können, wollen wir tun, und strengen uns dabei an. Wir entwickeln Konzepte, machen Ideenwettbewerbe, schaffen Werktage und suchen neue Modelle. Wir setzen uns Ziele. Wir sind Kirche mit Mission. Die 10 Thesen unserer Kirche geben ein gutes Leitbild und zeigen die Stärke dieser Kirche. Also, auf Ihre Frage: Ja, natürlich hoffe ich, dass sich der Trend umkehrt. Ich erlebe so lebendige Gemeinden vor Ort, davon müssten wir mehr reden!

Verändert der Schrumpfungsprozess, der in unseren Breiten stattfindet, Ihr Verständnis von der Kirche Jesu Christi?Ein Schrumpfen von Kirche muss nicht ein Schrumpfen von Glaube und religiöser Sehnsucht bedeuten. Mein Bild von der Kirche ist ein Hybrid. Ein Hybrid meint: Da sind mehrere „Motoren“ unter der Haube. Das ist natürlich ein eher technisches Bild, mit dem etwas Doppeltes gesagt werden soll: Kirche ist zum einen eine Organisation. Damit verbinden sich Vorstellungen wie Schlagkraft, Zielsetzung, Mitgliederorientierung, Ressourcenfragen.Zugleich ist Kirche seit alters her eine Institution. Sie steht für die Thematisierung existenzieller Lebenszusammenhänge. Kirche ist ein Hybrid aus Institution und Organisation – und dabei stets in Bewegung. Ja, Kirche ist vermutlich immer auch das: Bewegung. Mein nicht-technisches Verständnis ist: Kirche ist immer da, wo sie sich im gottesdienstlichen Leben erneuert. Das ist ein ganz dynamisches Bild. Kirche basiert auf einer ständigen Anziehung durch Gottes Wort, hat offene Türen und Fenster.

Es gibt einige Pfarrstellen auf dem Land, die schon mehrmals ausgeschrieben wurden und dennoch nicht besetzt wurden. Welche Perspektiven sehen Sie für die Versorgung des ländlichen Raumes? Wir brauchen den Beruf des Pfarrers, der Pfarrerin. Wir müssen kräftige Anstrengungen unternehmen, um für diesen wunderbaren Beruf weiter Nachwuchs zu gewinnen. Und wir müssen das Ehrenamt stärken. Ehrenamtliche gestalten auf allen Ebenen Kirche. Das ist gut reformatorisch. Vieles geht in dieser Kirche ausschließlich mit Ehrenamtlichen. Und es geht sehr gut durch sie. Die Ehrenamtlichen, Lektoren und Prädikanten nehmen das Amt der Verkündigung selbstverständlich wahr. Luther spricht ja für uns alle vom Priestertum aller Getauften. Dies ist einer der großen Schätze der Reformation.

Manche Pfarrer wollen nicht unbedingt aufs Land. Wie schätzen Sie die Ausbildungssituation ein – braucht es eine Spezialisierung im Pfarrberuf oder doch eher Generalisten? Ich bin eher zurückhaltend, was Spezialisierungen betrifft. Der Beruf ändert sich kräftig im Wandel der Zeiten, sein Kontext ebenso. Ich war liebend gerne in dem kleinen Ort Lengede Pfarrer. Und ebenso gern in der Stadt. Ich habe es immer als große Bereicherung empfunden, in ganz unterschiedlichen Lebenswelten mit dabei zu sein. Es ist ein Stück Aufgabe der Pfarrer und Pfarrerinnen, durch ihre Person für den Zusammenhalt und die Einheit von Kirche zu stehen.

Welche Möglichkeiten ergeben sich für Gemeinden durch die Veränderungsprozesse?Eine große Herausforderung könnte der Umgang mit Mitgliedschaft und Nicht-Mitgliedschaft werden. Es gibt viele Menschen, die sagen: Wir wollen nicht Mitglied der Kirche sein, aber wir sind gerne im Chor oder im Förderverein. Darin steckt Potenzial und Frage. Dazu ein Verhältnis zu bekommen, ist eine Aufgabe praktischer Theologie: Wie gehen wir mit unterschiedlicher Nähe und Distanz zur Kirche in unseren Gemeinden um? Theologie hat die Aufgabe, Praxis wahrzunehmen und so in einer Theorie zu verarbeiten, dass sich daraus hoffentlich wieder Hilfe für die Praxis ergibt. Die erste Hilfe theoretischer Reflexion sollte sein, den Spiel- und Möglichkeitsraum eigenen Handelns zu erweitern. Also etwa die verschiedenen Formen der Zuordnung von Menschen zu ihrer Kirche vor Ort ins Verhältnis zu setzen.

Wenn Sie sagen, diese Menschen seien ein Potenzial, bedeutet das, sie als Mitglieder anzuwerben?Menschen sind selbstbestimme Subjekte, sie treffen ihre Entscheidung. Wir dürfen niemanden einfach zum Objekt unserer Wünsche machen. Auch die Haltung, dass wir immer die Wissenden und Habenden seien und wir den Glauben quasi nur rüberbringen müssten – als sei er eine Art Keks in einer Schachtel und wir hätten den schon in der Tasche – auch diese Haltung empfinde ich als schwierig. Die anderen nur ein Potenzial in einer offenen Defizitrechnung? So zu denken scheint mir theologisch problematisch. Zugleich gilt selbstverständlich: Wir sind eine einladende und offene Kirche. Wir leben aus der Mission der Botschaft. Dazu gehört, dass wir uns mit anderen gemeinsam auf die Suche machen. Glaube ist kein Produkt, für das wir nur das richtige Marketing brauchen, damit wir es an den Mann oder die Frau bringen. Um uns dann zu wundern, dass diese Marketingstrategie nicht klappt. Glaube ist immer auch: Mit den Menschen auf die Suche ihres Lebens gehen, auf die Suche, wer dieses Leben hält und trägt und versöhnt.

Wie zeigen wir, dass wir einladend sind und gemeinsam suchen?Es geht um eine Haltung, die in allem, was wir tun, deutlich werden mag: im Feiern von Gottesdiensten, in der Hilfe für andere, in der Musik, im Diskutieren, im Bibelauslegen, und die wir als Wort Gottes für uns lebendig halten.

Falls wir uns in zwölf Monaten wiedertreffen, und wir Sie fragen, was im vergangenen Jahr passiert ist, was würden Sie gerne antworten?2017 feiern wir Kirchentag und Reformationsjubiläum. Darauf haben wir lange hingearbeitet und hingedacht. Dazu gehört, dass wir, wenn wir feiern, das auch genießen. Und nachhaltige Impulse aus den Erlebnissen und Gesprächen des Jahres mitnehmen. Die Fragen und Themen, um die es dabei geht, werden hoffentlich einen Aufbruch signalisieren, nicht nur in die Kirche hinein, sondern auch in die Gesellschaft.

Und danach sind alle erschöpft und in Katerstimmung?Nein, das kann ich mir kaum vorstellen. 2018 haben wir hoffentlich viele tolle Erinnerungen und neue Impulse, mit denen wir weitergehen können. Als Studiendirektor habe ich erlebt, dass durch die 850-Jahr-Feier des Klosters Loccum viel Kraft freigesetzt worden ist. Nach 2017 haben wir also hoffentlich große Lust weiterzudenken, wie die reformatorische Botschaft von der Liebe Christi uns weiter mitnimmt und anspornt.[lt]