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Wieder auf festen Boden kommen

Seit 20 Jahren beraten Seelsorger Menschen auch im Internet. Bundesweit gibt es pro Jahr 21 000 E-Mail-Anfragen und über 6000 Chat-Kontakte. Das Jubiläum war Anlass für einen Fotowettbewerb unter dem Titel „Aus Worten können Wege werden“

Seelsorge und Beratung per Telefon – das gibt es in Deutschland schon seit fast 60 Jahren. Deutlich jünger ist ein anderes Angebot der TelefonSeelsorge, nämlich die Beratung per Internet. Die feierte in diesem Jahr ihr 20. Jubiläum: mit zwei Fachtagungen in Stuttgart und Köln und einem Fotowettbewerb unter dem Titel „Aus Worten können Wege werden“.

Rund 150 Fotografinnen und Fotografen folgten der Einladung zum Wettbewerb. Insgesamt wurden 463 Einsendungen auf der Wettbewerbsplattform hochgeladen. 40 Bilder wählte eine vierköpfige Jury aus, unterstützt durch Martin Breutmann, Chefredakteur von Fotoforum. Die Bilder gehen als Wanderausstellung bundesweit auf Reisen (siehe Kasten).

Vorteil: Immer derselbe Gesprächspartner

Das Angebot der Internetseelsorge ist erfolgreich und eine wichtige Ergänzung zur TelefonSeelsorge mit ihren jährlich 1,8 Millionen Anrufen. Bundesweit gibt es pro Jahr 21 000 E-Mail-Anfragen und über 6000 Chat-Kontakte, also die direkte Kommunikation im Internet. „Wir haben sowohl beim Mailen als auch beim Chatten weitaus jüngere Leute als die, die uns anrufen. Also beim Chatten haben wir 12- bis 15-Jährige bis knapp 40-Jährige. Beim Mailen fängt es bei 13, 14 Jahre an, aber die Hauptgruppe ist auch bis 40 Jahre vertreten“, sagt Birgit Knatz, stellvertretende Leiterin der TelefonSeelsorge Hagen-Mark.
Birgit Knatz hat die Internetseelsorge vor 20 Jahren mit ins Leben gerufen. Der Vorteil für die Ratsuchenden ist ihrer Ansicht nach: „Beim Sprechen rutscht doch mal schneller was raus, was ich vielleicht nicht sagen wollte, wofür ich mich schäme oder was mir sehr unangenehm ist, und das kann ich beim Schreiben besser kontrollieren.“
Und es gibt noch einen Vorteil: Wer bei der TelefonSeelsorge anruft, hat nie den gleichen Gesprächspartner in der Leitung. Das ist beim Mailen anders: „Hier bleibt der Seelsorger immer derselbe“, sagt Thomas Kamm, stellvertretender Leiter der TelefonSeelsorge Münster. Er hat zum Beispiel eine Jugendliche drei Jahre lang per E-Mail begleitet: „Sie war 14, hatte Probleme mit Drogen. Vater unbekannt, Mutter alkoholkrank, hatte also ein sehr instabiles Lebensumfeld. Dann in der Folge Schulprobleme, selber auch Probleme mit Aggressionen. Sie hatte viele Probleme, über die Jahre immer wieder andere. Wir waren das einzige Hilfsangebot, das sie nicht abgebrochen hat in der Zeit. Sie hat immer wieder versucht, sich vor Ort Hilfe zu suchen, aber sie hat das alles nicht durchgehalten.“

Kinder und Jugendliche nutzen Internet-Angebot

Durch den immer gleichen Ansprechpartner bei der Internet­Seelsorge hatte sie einerseits ein festes Gegenüber. Andererseits „aber kein Gegenüber, was auf sie Einfluss nehmen konnte. Und ich glaube, darin lag die Chance in diesem Fall. Grundsätzlich ist das eine große Chance, dass der Mailende immer selber entscheidet, wie intensiv es wird und wann der Kontakt endet. Seelsorge per E-Mail, das ist ein sehr flexibles Medium, auch über eine lange Zeit, wenn man das denn will und braucht“, erläutert Kamm.
„Dieses Gefühl von ,selbst kontrollieren zu können, was da geht‘, gibt vielen Menschen eine Sicherheit“, sagt Birgit Knatz. Auch beim Chatten – also der direkten und schnellen Online-Diskussion – kann man noch etwas wieder löschen bevor man es abschickt. Es ist auffällig, dass sich bei dem jüngsten Angebot der TelefonSeelsorge vor allem Kinder und Jugendliche melden. Viele – ob Kinder oder Erwachsene – trauen sich nur hier, zu sagen, dass sie mit dem Gedanken spielen, sich umzubringen. Knatz: „Das ist beim Mailen etwas über 15 Prozent und beim Chatten über 25 Prozent, am Telefon liegt es bei drei Prozent.“
Dass schon Kinder und Jugendliche Suizidgedanken haben und deshalb an die Internetseelsorger schreiben, ist erschreckend – lässt sich aber erklären. „Viele Mädchen oder Jungen geraten in eine Krise, wenn jemand, den sie gerne haben, stirbt, wenn es in der Schule schlecht ist, wenn ‘ne Freundschaft auseinanderbricht. Und die haben noch keine Erfahrungen, anders als Erwachsene, dass es nach einer Krise weitergeht“, sagt Birgit Knatz. Ansonsten kommen die Alltagsprobleme vor „von Konflikten im Elternhaus, Schulnoten, auch Auseinandersetzung in der Klasse oder Clique, Mobbing. Aber auch manchmal einfach nur Traurigsein. Traurigsein, weil das Lieblingstier gestorben ist, weil Oma gestorben ist“, weiß Thomas Kamm.

Eine Art Frühwarnsystem für die Gesellschaft

Nah dran sind die Ehrenamtlichen der TelefonSeelsorge – ganz gleich in welchem Medium. Im Internet nun genau seit 20 Jahren. Und sie sind eine Art Frühwarnsystem für die Gesellschaft: „Vor dreißig, vierzig Jahren schon war der sexuelle Missbrauch ein Thema in den Gesprächen, als er sonst kaum öffentlich gemacht wurde. Danach waren es die Essstörungen und heute ist es die Bindungsunfähigkeit“, meint Birgit Knatz. Da finden sich zwei Singles über eine Kontaktbörse. Doch sie entdeckt: Er meldet sich da nicht ab. Sie fragt sich: „Warum macht er das denn? Wir sind doch jetzt zusammen. Soll ich mich denn auf ihn einlassen oder nicht? – „Ich glaube, dieses sich aufeinander einzulassen und mitzukriegen, dass Beziehung auch Arbeit ist, dass Beziehung Vertrauen braucht, das finde ich, ist gerade ein Thema, was man ablesen kann.“