Der Jubel ist lange verflogen, doch Hunger und Gewalt sind noch da: Ein Jahr nach dem Umsturz in Syrien bleibt die politische Zukunft des Landes weiter ungewiss. Vor allem die Minderheiten sind in Sorge.
Hilfsorganisationen und Experten sind überzeugt: Der Wiederaufbau Syriens wird Jahrzehnte dauern. Ein Jahr nach dem Sturz von Diktator Baschar al-Assad bleiben die Zerstörungen des Bürgerkriegs von 2011 bis 2024 allgegenwärtig, leben 90 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Über allem steht die Frage, wie es politisch weitergeht in dem verwüsteten Land, das zugleich in der Krisenregion Nahost eine geostrategische Schlüsselrolle spielt.
Am 8. Dezember 2024 hatten Rebellen unter Führung der von der Türkei unterstützten islamistischen HTS-Miliz die Hauptstadt Damaskus nach einem blitzartigen Vorstoß aus ihrer Basis Idlib eingenommen. Machthaber Assad floh ins Exil nach Moskau. Bis dahin galt sein Regime als Sieger des Bürgerkriegs. Tatsächlich stand es nur noch auf tönernen Füßen, nachdem seine Verbündeten von ihm abgerückt waren – Russland wegen des Ukraine-Kriegs, Iran und die libanesische Hisbollah nach der Schwächung durch Israel.
Ein Rausch der Befreiung ging durch das Land. 54 Jahre lang hatten Baschar und zuvor sein Vater Hafis al-Assad das syrische Volk mit einer brutalen Geheimdienstherrschaft terrorisiert und unterdrückt. Nun öffneten sich die Foltergefängnisse; die Staatspartei Baath und ihre Kader verschwanden fast über Nacht.
HTS-Chef Ahmed al-Scharaa, der als ehemaliger Dschihadist und Zögling von Al-Kaida lange auf den internationalen Terrorlisten stand, amtiert seither als Übergangspräsident und will das multiethnische und multireligiöse Syrien in den nächsten fünf Jahren in eine tragfähige Staatsform überführen. Wie demokratisch sie sein wird, steht dahin. In bisherigen Absichtserklärungen wird etwa die islamische Scharia als Hauptquelle der Gesetzgebung genannt.
De facto regiert al-Scharaa nur einen Teil des Staatsgebiets: Den Nordwesten kontrollieren türkische Truppen, im Nordosten haben die autonomen Kurden das Sagen. “Die Sicherheitslage ist brüchig. Al-Scharaa hat nicht mehr die volle Kontrolle über alle Milizen”, berichtete Thomas Volk, Leiter der Abteilung Naher Osten und Nordafrika der Konrad-Adenauer-Stiftung, in dieser Woche bei einem Pressegespräch, kurz nach einem Besuch in Damaskus. Als “tickende Zeitbomben” bezeichnete er die 20.000 Ex-Mitglieder der Terrormiliz “Islamischer Staat”, die derzeit in Internierungslagern der Regierung sitzen. Daneben seien noch Tausende ausländische Kämpfer im Land.
Hoffnungen auf einen friedlichen Übergang des mehrheitlich sunnitischen Landes zerstoben spätestens im März, als islamistische Milizionäre in den Küstenregionen Tartus und Latakia schwere Massaker unter den Alawiten verübten, die als Glaubensbrüder des Assad-Clans die alte Ordnung gestützt und von ihr profitiert hatten. Ähnliches wiederholte sich im Juli gegen die Drusen im südlichen Suwaida.
Der vom Glaubenskrieger zum pragmatischen Staatsmann mutierte al-Scharaa zeigte sich jeweils mit Worten bemüht, die Gewalt einzudämmen. Doch unter den religiösen Minderheiten Syriens geht die Angst um, dass der radikale Islam immer dominanter wird. Im Juni sorgte ein Bombenanschlag auf die Mar-Elias-Kirche in Damaskus mit 25 Toten für Entsetzen. Die Täter stammen offenbar ebenfalls aus den Reihen der Milizen.
2011 lebten mehr als zwei Millionen Christen in Syrien. Die meisten flohen vor Krieg und Terror, heute sind es laut Schätzungen nur noch 500.000. “Christen können ihren Glauben praktizieren und Kirchen sind geöffnet; sie fühlen sich aber eher geduldet als vollständig integriert”, sagte die Nahost-Referentin des Hilfswerks missio Aachen, Romina Elbracht, der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Vor allem hofften sie auf volle Bürgerrechte und politische Teilhabe.
Trotz aller Probleme im Innern kann die Regierung in der Außenpolitik Erfolge vorweisen. Eine kleine Sensation war im November der Empfang al-Scharaas im Weißen Haus durch Donald Trump. Der US-Präsident verlängerte die Aussetzung der gegen das Assad-Regime verhängten Sanktionen und lobte den früheren Top-Terroristen als “harten Typ”, der sein Land wieder auf die Beine bringen könne.
Die USA sehen den einstigen Erzfeind Syrien offenbar als möglichen Partner für ihre Nahost-Strategie. Zugleich interveniert Israel immer wieder mit Militärschlägen in dem Nachbarland, und Russland betreibt weiter eine Marinebasis am Mittelmeer. Für Syrien kommt es jetzt darauf an, neue regionale Partner anstelle des schiitischen Iran zu finden. An erster Stelle stehen hier die Türkei, Saudi-Arabien und Katar, die auch bereits erste Investitionen in dem zerstörten Land gestartet haben.
180 Milliarden Euro wird der Wiederaufbau kosten, schätzen Experten. Krankenhäuser, Schulen und ein Drittel der Infrastruktur sind zerstört, Städte wie Aleppo und Homs ein Trümmerfeld. Derzeit muss aber zunächst die größte Not gelindert werden. “Mehr als zwei Drittel der Bevölkerung sind auf humanitäre Unterstützung angewiesen. 9,1 Millionen Menschen leiden akut unter Hunger”, teilte die Welthungerhilfe in dieser Woche mit. Die Brotpreise hätten sich verzehnfacht.
Trotzdem sind laut UN seit Dezember 2024 mehr als drei Millionen Geflüchtete aus dem In- und Ausland in ihre Heimatregionen zurückgekehrt. Unter den Syrern in Deutschland überwiegt noch das Misstrauen: Bis August traten nur etwa 4.000 von ihnen die Heimreise an.