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Wer erfand das Individuum?

Bei einer Tagung der Evangelischen Kirche von Westfalen ging es um Luthers Beitrag zur Entdeckung persönlicher Freiheit

SCHWERTE-VILLIGST – Was vor 500 Jahren mit Martin Luther begann, hat die Entwicklung zur modernen Gesellschaft beeinflusst: „Die Reformation ist ein Teil der neuzeitlichen Freiheitsgeschichte“, erklärte die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD). Aber wie stark war der Einfluss wirklich? Wie stark hat eine zunächst theologische Auseinandersetzung den Weg bereitet für Freiheit, also auch Religionsfreiheit, und Individualismus? Dass es auf diese Fragen keine eindeutigen Antworten gibt, zeigte die Tagung „Die Entdeckung des Individuums“ der Evangelischen Kirche von Westfalen in Haus Villigst in Schwerte.

Luther steht in der Tradition des Mittelalters

Für Brad S. Gregory von der Universität Notre Dame in Indiana/USA hat Luther keineswegs etwas Neues entdeckt, als er die Erfahrung machte, dass er allein und als Individuum vor Gott stehe und dazu nicht die Zwischeninstanz der Kirche brauche. Solches Denken und Empfinden sei schon zweihundert Jahre vorher vorhanden gewesen. „Luther steht in der Tradition des Mittelalters und weist nicht in die Moderne“, so der Theologe. Luthers individuelle Erfahrung sei religiöser Natur: Gott erlöst mich von meinen Sünden, ohne dass ich dafür etwas leisten muss. „Er wäre entsetzt über unseren modernen Individualismus, wo jeder das gesetzlich geschützte Recht hat zu glauben, was er will“, sagte Gregory. Die westliche Moderne sieht der Theologe allenfalls als indirekte Folge der Reformation: Sie habe sich entwickelt „aus vielen Versuchen, die unerwarteten Probleme zu lösen, die aus der Reformation entstanden sind“.
Professor Hellmut Zschoch von der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel räumte ein, dass die Reformation zwar keine Theorie des modernen Individuums biete. Die verschiedenen Kirchen „sind tatsächlich nicht das Ergebnis, das Luther und andere auch nur von ferne geplant, gewollt oder gar akzeptiert hätten“. Trotzdem seien die Reformatoren nicht gescheitert. Denn sie hätten „einen neuartigen Erfahrungsraum religiöser Individualität eröffnet“: für verantwortlich handelnde Menschen mit eigenen Überzeugungen.
Der Historiker Hans-Walter Schmuhl von der Universität Bielefeld beschrieb den modernen Menschen als Individuum, das – anders als im Mittelalter – nicht mehr in feste gesellschaftliche und religiöse Ordnungen eingebunden ist, sondern sich frei und selbstbestimmt in einer unübersichtlichen Welt zurechtfinden muss. Während das Leben in vormodernen Zeiten durch und durch von Religion bestimmt war, sei die Religion heute zu einem Lebensbereich unter vielen geworden. Das bedeute aber auch: Über den eigenen Glauben und den Glauben anderer wird nachgedacht und kritisch reflektiert. Der Anstoß dazu kam von der Reformation vor 500 Jahren. Sie hat, so Professor Schmuhl, „einen entscheidenden Beitrag zur Individualisierung der Religion und damit – unwissentlich und unbeabsichtigt – auch zur Ausformung des modernen Individuums geleistet“.
Für Albert Henz, den Theologischen Vizepräsidenten der westfälischen Landeskirche, ist klar: „Die Reformation hat Entwicklungen angestoßen, die heutige Demokratie und Zivilgesellschaft prägen. Aktuell sind deren Standards durch manche Störungen bedroht.“

Eigene Haltung ersetzt oft Argumente

Wie sehr das moderne Verständnis von Individualität gerade im Moment zu enormen Problemen führt, zeigte UK-Chefredakteur Gerd-Matthias Hoeffchen im abschließenden Beitrag auf. Der Handlungsgrundsatz „Regel Nummer eins: Jeder macht Seins“ sei in weiten Teilen der Bevölkerung so stark verinnerlicht, dass es schwerfalle, sich über verbindliche Ansichten, Werte und Umgangsformen zu verständigen. Nicht von ungefähr rede man zur Zeit vom „postfaktischen Zeitalter“, in dem die eigene Haltung, wenn sie nur heftig genug vorgetragen werde, das gute Argument ersetze. Hier könne die Rückbesinnung auf die Reformatoren möglicherweise helfen: „Ihnen ging es nicht um grenzenlose Freiheit“, so Hoeffchen, „sie sahen das Individuum immer in Beziehung zu, in Bindung an etwas. Diese Art der Bindung zu wählen – das war reformatorische Freiheit.“ UK/gmh