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Weiße Kaninchen jagen

Grace Slick war verrückter als viele andere „Blumenkinder“ der 1960er Jahre: Die Sängerin und Songschreiberin der Hippie-Band „Jefferson Airplane“ pöbelte Uniformträger an, fuhr betrunken und bekifft mit dem Auto umher, zeigte dem Establishment den Mittelfinger – und landete deshalb mehrmals im Gefängnis. Sie rief ihr Publikum dazu auf, Drogen einzuwerfen und „weiße Kaninchen“ zu jagen, eine Anspielung auf einen Drogentrip. Und sie plante gar, dem US-Präsidenten Richard Nixon das Rauschmittel LSD in seinen Tee zu kippen. Die Hippie-Ikone, die als Grace Barnett Wing in einer Vorstadt von Chicago geboren wurde, wird am 30. Oktober 85 Jahre alt.

Sie ist eine der wenigen überlebenden Rockmusikerinnen und -musiker der „Flower-Power“-Zeit. In den 1960ern bildete sich an der Westküste der USA mit ihrem Zentrum San Francisco eine Gegenkultur heraus, die sich weltweit verbreitete. Viele junge Leute rebellierten gegen eine bleiern-konservative US-Gesellschaft, die ihre jungen Männer in einen fernen Krieg nach Vietnam schickte. Slick war eine der prominentesten Künstlerinnen, die dem Wunsch der jungen Generation nach einem Wandel eine Stimme gab. Beim „Woodstock“-Festival im August 1969 trat sie mit ihrer Band im weißen Kostüm der indigenen Amerikaner auf: Das dreitägige Konzert steht bis heute symbolisch für den Traum der Nachkriegsjugend von Liebe und Frieden.

Ihre Freunde Janis Joplin, Jimi Hendrix und Jim Morrison von den „Doors“ sind lange tot – sie alle starben mit nur 27 Jahren durch Drogenmissbrauch. Grace Slick ist noch da, auch wenn sie dem Rock’n’Roll-Zirkus vor 35 Jahren den Rücken kehrte: Zurückgezogen lebt sie heute in der Nachbarschaft von Hollywood-Größen und Rockstars in Malibu bei Los Angeles. Dort, in ihrem Haus am Pazifikstrand, malt sie Bilder – vor allem von ihren ehemaligen Rockfreunden – und engagiert sich für den Tierschutz. Ihre „Dämonen“, wie sie ihre langjährige Alkohol- und Drogensucht nennt, scheint sie besiegt zu haben.

Grace Slick, die zunächst als Fotomodell arbeitete, gilt als eine der ersten Frauen, die Erfolg im männerdominierten Rockbusiness hatte. 1965 gründete sie mit ihrem damaligen Mann Jerry Slick und ihrem Schwager Darby Slick in San Francisco die Band „Great Society“. 1966 schloss sie sich der Formation „Jefferson Airplane“ an, die mit ihrem treibenden „psychedelischen Rock“ zum Höhenflug ansetzte. Die Musiker schrieben oft unter Einfluss von Drogen wie LSD („Acid“) „psychedelische Musik“, die mit Rhythmen und Klängen experimentierte.

Mit dem zweiten Album „Surrealistic Pillow“ (1967) gelang Slick und ihrer Hippie-Truppe der internationale Durchbruch. Die Musiker galten mit ihren langen Haaren, bunten Klamotten und frech-aggressivem Auftreten als Bürgerschrecks. Für das Album nahmen sie die beiden „Great Society“-Songs „Somebody to Love“ und „White Rabbit“ nochmals auf – letzterer gilt als erster Rocksong, der den Drogenkonsum offen preist. Das Stück spielt mit Motiven aus dem Kinderbuch-Klassiker „Alice im Wunderland“ wie der Jagd nach dem titelgebenden weißen Kaninchen: Im Buch folgt Alice ihm und gelangt ins „Wunderland“.

Mit durchdringender Altstimme sang Grace Slick „wie ein Nebelhorn“, wie es das Magazin „Classic Rock“ einmal beschrieb. Oft im Duett mit dem zweiten Sänger Marty Balin prangerte sie Machtgier und Heuchelei der Herrschenden an. „Wenn sich herausstellt, dass die Wahrheit Lügen sind. Und alle Freude in dir stirbt – brauchst Du dann nicht jemandem zum Lieben?“, heißt es düster in „Somebody To Love“. Ihre Fans erhoben Slick zur unnahbaren, mal entrückten, mal kämpferischen „Acid Queen“.

1969 rief die Band „Jefferson Airplane“ auf ihrem Album „Volunteers“ mit anarchischen Songs zur Revolution in den USA auf. Die Band verlor im Drogennebel ihren Weg und fiel auseinander. Slick und ihr zeitweiser Ehemann, der „Jefferson Airplane“-Gitarrist Paul Kantner, machten in den 1970er Jahren weniger erfolgreich als „Jefferson Starship“ weiter. Sie blieben ihrem skandalträchtigem Image treu: Bei einem Konzert im Jahr 1978 für die WDR-Musikshow „Rockpalast“ in Hamburg beschimpfte die alkoholkranke Slick das Publikum als „Nazis“, zeigte den Hitlergruß. Die Show wurde nie im Fernsehen gezeigt – Slick musste danach zeitweise die Band verlassen.

Nach weiteren Häutungen landete die Formation „Starship“ mit Slick als Sängerin Mitte der 1980er Jahren einige Singlehits. Doch die Musikerin hasste Songs wie „Sahra“ und „We built this City“ (beide 1985), nannte sie einen „kommerziellen Ausverkauf“. 1989 kam „Jefferson Airplane“ nochmals für ein Album und eine Tournee zusammen. Doch Grace Slick hatte sich da längst entschlossen, ihre Karriere zu beenden und abstinent zu leben: „Alle Rock’n’Roller über 50 sehen blöde aus und sollten in den Ruhestand gehen“, sagte sie im Jahr zuvor in einem Fernsehinterview. „Ich sehe nicht gerne, wie Leute in meinem Alter herumhüpfen und über ihre Gefühle singen, als ob sie 23 wären.“