Pfarrer hatte er eigentlich niemals werden worden, Dichter schon gar nicht. Vor 100 Jahren, am 31. Januar 1921, kam Kurt Marti in Bern zur Welt, als Sohn eines Notars und liberalen Kommunalpolitikers und einer Mutter, die ihn „mit Liebe und Ängstlichkeit“ umsorgte, wie er selbst einmal formulierte.
Nach dem Abitur leistete er seinen Wehrdienst bei der Infanterie, begann Jura in Bern zu studieren. Doch dann begegnete er Karl Barths widerborstiger, unorthodoxer Theologie. Marti wechselte das Studienfach, ging als Kriegsgefangenenseelsorger nach Paris. Später wirkte er als reformierter Pfarrer in der kleinen Industriegemeinde Niederlenz im Aargau.
Predigten als Dauergespräch
Marti heiratete und baute ein respektvolles Verhältnis zu seiner Gemeinde auf. „Predigen – für mich hieß das Dialog, Dauergespräch. Ich bin wohl eher Dialogiker als Einwegmissionar“, schätzte er sich ein. Später kehrte er als Pfarrer in seine Heimatstadt zurück und bekam Lust zu schreiben. Die gängige Kirchensprache schien ihm immer leerer, unaufrichtiger, weit weg vom wirklichen Leben. Die deutschsprachige Welt wurde aufmerksam auf den Pfarrerpoeten, der die sakrale Sprache so gekonnt zu verfremden wusste, hintersinnige, bisweilen boshafte Lyrik schrieb und sich zunehmend politisch engagierte.
Kurt Marti verteidigte Wehrdienstverweigerer vor eidgenössischen Militärgerichten, beteiligte sich an Protesten gegen Atomkraftwerke und die Zerstörung der „Mitwelt“ – den Begriff „Umwelt“ mochte er nicht. Er klärte über den Vietnamkrieg auf und stellte den Umgang der Schweiz mit der Dritten Welt in Frage. Marti bekannte sich gern als überzeugten Schweizer, als Freund von Kleinstaaterei, Föderalismus und kultureller Vielfalt. Aber er warf seinem Land vor, dass es Wirtschafts- und Profitliberalismus mit Freiheitlichkeit verwechselte, dass es den eigenen Wohlstand auf die Armut anderer Völker baute und sich technologischen Multis und der NATO an den Hals warf.
Beliebt bei den staatlichen und kirchlichen Obrigkeiten machte er sich damit nicht. 1972, als die evangelisch-theologische Fakultät der Universität Bern Marti auf den Lehrstuhl für Predigtkunde berufen wollte, verweigerte der kantonale Regierungsrat die nötige Zustimmung. Kurt Marti sei ein „pastoral verkappter Marxist“.
Marti nahm den Karriereknick gelassen. Er schrieb weiter Buch um Buch – vor allem seit 1983, als er sein Pfarramt 62-jährig niederlegte –, gab den Sehnsüchten und Ängsten der kleinen Leute eine Sprache, prangerte die Zerstörung der Schöpfung und die Beschädigung von Menschenseelen an, entlarvte bürgerliche Konventionen und amtskirchliche Heuchelei.
Als clownesker Wortspieler wirft er unbekümmert Denkgewohnheiten und Redemuster durcheinander, wechselt von der hellsichtigen Zustandsbeschreibung in die melancholische Analyse. „Epiphanie“ nennt er die Aufgabe der Literatur mit einem klassischen theologischen Begriff: Die Tiefendimension der Realität zur Sprache bringen. Sprechend das Wunder entdecken, zärtlich und genau: „Insofern ist Lyrik die Sprachform der Zärtlichkeit. Ein Haar, ein Blick, ein Blatt werden in ihr unendlich wichtig, werden Epiphanien des Lebens überhaupt.“
Kirchen zu weit weg vom gekreuzigten Gott
Einen christlichen Dichter will er sich nicht nennen lassen, damit werde man nur vereinnahmt oder, schlimmer noch, abgehakt. „Vielleicht hält Gott sich einige Dichter, damit das Reden von ihm jene heilige Unberechenbarkeit bewahre, die den Priestern und Theologen abhandengekommen ist“, gibt er nichtsdestotrotz selbstbewusst zu bedenken. „Die Kirchen und ihre Beamten sind oft so weit weg vom gekreuzigten Gott, der auf der Seite der Elenden steht. Statt diese kaputte Welt getreu den Visionen der Bibel zu verändern, vertrösten sie die Enttäuschten auf einen blassen Himmel“, kritisiert er.
Dagegen setzt Marti einen Gott, der die Emanzipation und das Glück seiner Menschen will, der zum Widerstand und zum Kampf anstachelt. Ein Gott, der nicht Allmacht ist, sondern Liebe. Er fügt sogleich hinzu: konkrete, zum Engagement verpflichtende Liebe, damit das Wort nicht zur unverbindlichen Phrase gerät. Einen „Gott an sich“ kennt er nicht, nur jenen, der im armen, gekreuzigten Jesus greifbar wird – was ihn gegen Gottes dogmatische Vergötzung ebenso immun macht wie gegen seine bürgerliche Verharmlosung.
Das ewige Leben, das die Kirchen tröstend verkünden, muss laut Marti hier und heute beginnen, das Leben im Diesseits verändernd. Das heißt, Auferstehung darf, soll, muss sich jetzt und hier ereignen, jeden Tag.
Abschied von einem verengten Gottesbild
Gott ist Liebe – das bedeutet schließlich den Abschied von einem männlich verengten, patriarchalischen Gottesbild und die Wiederentdeckung seiner weiblichen Züge. Als Mann und Frau hat er den Menschen nach Auskunft der Bibel geschaffen, beide zusammen sind sein Ebenbild, deshalb muss Gott sowohl weiblich wie männlich sein.
Vielleicht werde der Messias Jesus am Jüngsten Tag als Frau wiederkommen. Oder als Paar – warum nicht? Darf man Gott keine Überraschung zutrauen? fragt der Ketzer Marti, der freimütig zugibt, auch oft nicht beten zu können, und doch an Gott hing mit allen Fasern seines leidenschaftlichen Herzens.
In seinen späten Jahren sah er mit neugierigem Vertrauen dem Tod entgegen. Ob es einen Sinn hat, wenn sich dann alle im Himmel wieder begegnen? Dort müsse doch ein furchtbares Gedränge herrschen, pflegte seine Frau Hanni zweifelnd zu sagen.