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Veränderung als Chance nutzen

Rund 1000 Kirchen und etwa 5000 Gebäude gehören in seinen Zuständigkeitsbereich: Landeskirchenbaudirektor Reinhard Miermeister. Mit großem Elan hat er seine Aufgaben wahrgenommen. Nach 31 Jahren verlässt er nun das Baureferat der Landeskirche

Zahlen können beeindrucken. Und Zahlen können Geschichten erzählen. Lebensgeschichten. Reinhard Miermeister kennt solche Zahlen, und er kennt solche Geschichten. 31 Jahre lang war der Landeskirchenbaudirektor im Dienst der Evangelischen Kirche von Westfalen tätig. Dreißig Jahre davon hat er das Baureferat am Altstädter Kirchplatz geleitet und maßgeblich geprägt. Zuletzt fielen noch über 1000 Gottesdienststätten – darunter über 500 wertvolle denkmalwerte Kirchen – in seinen Zuständigkeitsbereich. Hinzu kamen noch einmal weitere 5000 Gebäude, die von der Landeskirche unterhalten werden. Fürwahr eine Mammutaufgabe.

Der Punkt ist gekommen, um loszulassen

Am Ostersonntag, 1. April, wird Reinhard Miermeister mit Erreichen der Altersgrenze nun offiziell in den Ruhestand gehen. Und wie das häufig bei Menschen ist, die ihre Aufgabe mit ganz viel Herzblut und Empathie versehen haben, mit einem lachenden und einem weinenden Auge: „Es ist immer schwierig, den richtigen Zeitpunkt zu finden, um aufzuhören. Aber nun ist der Punkt gekommen, an dem ich loslassen kann und auch loslassen will. Dafür ist der Ostersonntag ein schönes Datum.“
Nach dem Architekturstudium an der RWTH in Aachen beim berühmten Kirchenbauer Gottfried Böhm hat der gebürtige Bielefelder zunächst als angestellter, später als selbstständiger Architekt in einer Aachener Bürogemeinschaft gearbeitet. Als er 1986 – da war er gerade 34 Jahre alt geworden – eine Stellenausschreibung der Landeskirche für die Bauberatung las, war für ihn klar: „Da bewirbst du dich.“
Dass er die Stelle im damaligen Bauamt nicht nur bekam, sondern bereits Monate später dessen Leiter wurde, ist mit den Worten „rasanter Aufstieg“ sehr konservativ und defensiv umschrieben. „Mich hat die Kombination aus Kunst- und Baugeschichte schon immer beeindruckt. Zudem finde ich die Sinnhaftigkeit kirchlicher Gebäude beeindruckend. Eine Sinnhaftigkeit, die in keiner Weise vom Kommerz geprägt oder beeinflusst wird“, nennt er eine seiner Motivationen, sich auf diese Herausforderung einzulassen.
Denn eine Herausforderung war es vom ersten Tag an. Direkt nach dem Krieg war das Bauamt, das bis 1956 in Hagen ansässig war und dann nach Bielefeld verlegt wurde,  einer der ersten eigenständigen Fachbereiche der Landeskirche. Die Aufgaben waren vor dem Hintergrund der gewaltigen Kriegsschäden immens und glichen denen des berühmten Sisyphos. Hunderte von Kirchen und kirchlichen Gebäuden mussten restauriert und saniert werden. Gleichzeitig entwickelte sich in den 50er und 60er Jahren ein wahrer Boom bei Kirchenneubauten.
Themen wie etwa die Inventarisierung der kirchlichen Kunstgegenstände und Ausstattungen oder eine exakte Bestandsaufnahme der Gebäude spielten damals zunächst ebenso wenig eine Rolle wie das Entwickeln tragfähiger Konzepte für die Zukunft. Das kam erst später.

Kirchen sind ein Maßstab für Jahrhunderte

Als Reinhard Miermeister 1987 nach Bielefeld kam, fand er daher ein Amt vor, „das eine gewisse Erneuerung brauchte“. Behutsam und mit viel Fingerspitzengefühl stellte er sich dieser Aufgabe: „Gemeinsam mit meinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen haben wir zum Beispiel die Art und Weise der Bauberatung modifiziert. Eine der Hauptaufgaben des Baureferates war und ist die Beratung der kirchlichen Bauherren bei allen relevanten Baumaßnahmen. Dabei wird im Spannungsfeld von Qualität, Finanzen, Umweltverträglichkeit und Alltagstauglichkeit besonderer Wert auf die Vermittlung des kulturellen Auftrags von Architektur gelegt. Das erfordert oft einen hohen Moderationsaufwand.“
Ein Aufwand, der sich gelohnt hat, denn besonders die von den Kirchengemeinden beauftragten freiberuflichen Architekten sowie die Kirchmeister haben die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Miermeister und seinen Kollegen im Baureferat in den vielen Jahren schätzen gelernt.
„Kirchengebäude“, so erklärt der Architekt aus Leidenschaft,  „haben ganze Epochen und auch Städte sowie Regionen geprägt – und tun das noch heute. Kirchliche Baukultur ist daher ein Maßstab für Jahrhunderte. Das ist ein Erbe, das ganz eng verbunden ist mit den individuellen Geschichten von Menschen und der Geschichte der Menschheit. Dieses Erbe gilt es zu bewahren.“
Das aber mache dieses Thema gleichzeitig auch so hochbrisant. Vor dem Hintergrund des demographischen Wandels und zurückgehender Zahlen der Gemeindeglieder sei dies eine besonders spannende Frage und Aufgabe für die Zukunft: „Wie gehen wir mit diesem Wandel um? Wie lauten unsere Antworten?“
Grundsätzlich – so das Credo des Experten – müssen sich Kirchengemeinden mit Unterstützung der Bauberatung frühzeitig Gedanken machen, welche Lösungen und Alternativen es für den zu großen Gebäudebestand geben soll: „Der Wandel bietet ja auch große Chancen zum Aufbruch und zur Neuorientierung. Das sind Potenziale, die man nutzen muss. Es geht daher auch um Entwicklung und Transformation.“ Dazu seien Phantasie, Engagement und Mut aller Beteiligten gefragt.
Miermeister: „Es ist wichtig, dass Kirche ihre Bedeutung und ihren Stellenwert gerade dann zeigt, wenn sie reduzieren muss. Kirchengebäude sind schließlich Orte der Begegnung von uns Menschen mit Gott. Diese Gebäude können Transzendenzerfahrungen unterstützen und ermöglichen. Deshalb haben wir eine hohe Verantwortung, vor dem Hintergrund der aktuellen wie der künftigen Entwicklungen nicht zu verzagen, sondern Möglichkeiten zu suchen und zu finden, wie wir diesem Erbe gerecht werden.“
Wichtig ist ihm bei diesem Prozess, dass im Blick bleibt: „Kirchliche Gebäude, die evangelisches Profil und Identität ausstrahlen, sind öffentliche Orte der Begegnung und als solche nicht nur Imagefaktor; sie ermöglichen zugleich die Identifikation der Bürgerschaft mit ihrer Stadt und ihrem Quartier.“
Reinhard Miermeister wird diesen Prozess zwar weiterhin mit professionellem Interesse, aber von nun an auch mit einer gewissen Gelassenheit verfolgen, denn für ihn werden sich die Prioritäten künftig zwangsläufig ändern. Den Kindern und Enkelkindern, die in Süddeutschland und der Schweiz leben, will er mehr Zeit widmen. Ohnehin steht das Thema Reisen ganz oben auf der Agenda.

Hoffnung, die Wiesenkirche ohne Gerüst zu sehen

Aber natürlich wird er sich hin und wieder darüber informieren, was sich so tut bei der Landeskirche und ihren vielen Kirchenkreisen. Dass er dabei immer wieder seinen Blick in den Kirchenkreis Soest richten wird, gibt er gerne zu: „Es ist beeindruckend, wie viele wertvolle und eindrucksvolle mittelalterliche Kirchen es dort gibt.“ In diesem Zusammenhang hat er eine ganz persönliche Hoffnung: „Als ich 1987 bei der Landeskirche angefangen habe, war ein Turm der Soester Wiesenkirche bereits teilweise eingerüstet. Wenn ich jetzt nach 31 Jahren gehe, stehen dort immer noch Gerüste. Das zeigt, um welch gewaltige Aufgabe es sich bei dieser Baumaßnahme handelt.“ Für Miermeister ist die Wiesenkirche „eine der spektakulärsten Hallenkirchen nördlich der Alpen“. Läuft alles nach Plan, sollte die Restaurierung der beiden Türme 2022/2023 beendet werden. „Ich bin da sehr zuversichtlich“, freut sich der Landeskirchenbaudirektor schon jetzt auf diesen historischen Moment.