Das Getöse der Sozialen Medien ist seine Sache nicht. Und über die Gesellschaft seiner ungarischen Heimat spricht er schnörkellos: Der Kommunismus habe den “bürgerlichen Anstand ausgelöscht”.
Er zählt zu den profiliertesten Kirchenvertretern in Mittel- und Osteuropa, und wenn es um den möglichen künftigen Papst geht, fällt stets auch sein Name: Kardinal Péter Erdö. Noch im April 2023 konnte Ungarns Primas, der von 2006 bis 2016 auch Vorsitzender des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE) war, Papst Franziskus in seiner Bischofsstadt Budapest begrüßen – schon zum zweiten Mal.
Seit über zwei Jahrzehnten steht der 72-jährige Erdö als Erzbischof an der Spitze der ungarischen Hauptstadtdiözese mit ihren Doppelsitzen in Budapest und Esztergom (Gran), ehemals Metropole des Königreichs Ungarn. Als intellektuell und theologisch beschlagener Jurist und Kirchenrechtler bringt Erdö ein klares Verständnis für Strukturen sowie politisches Kalkül mit. Das Konkordat zwischen dem postkommunistischen Ungarn und dem Heiligen Stuhl, das der Kirche heute wieder ein breites Engagement im Bildungs- und Sozialwesen ermöglicht, trägt auch seine Handschrift.
Kirchenpolitisch und theologisch gilt Erdö als “Ratzingerianer”. Der sprachbegabte Primas ist vor allem ein Mann des Wortes und der Wissenschaft, nicht der großen Öffentlichkeit. Dennoch hat er sich in seinen Ämtern zu vielen gesellschaftlich und kirchlich relevanten Themen geäußert: Postkommunismus, Habgier, Ausländerfeindlichkeit, Sekten.
Über die Gesellschaft seiner ungarischen Heimat spricht Erdö schnörkellos: Der Kommunismus habe den “bürgerlichen Anstand ausgelöscht”; die freiwillige Befolgung von Rechtsnormen sei sehr niedrig. Heute seien die Menschen viel stärker durch Bilder und elektronische Medien zu manipulieren als durch ein Parteiprogramm oder eine durchdachte Rede zu überzeugen.
Ungarn attestiert Erdö “mehr religiöse Trockenheit” als in anderen früher sozialistischen Staaten Mitteleuropas. Entsprechend betont der Kardinal immer wieder die Bedeutung des Christentums als gelebte Religion. Zur Tagespolitik hingegen ist es eher still um den Budapester Erzbischof – und wenn, dann gilt es zwischen den Zeilen seiner öffentlichen Ansprachen zu lesen.
Geboren am 25. Juni 1952 in Budapest als erstes von sechs Kindern, studierte Erdö in kommunistischer Zeit in Budapest und Rom Jura und Theologie. Eine Anwaltskarriere war ihm als Angehöriger einer bekannterweise religiös lebenden Familie verwehrt. 1975 wurde er zum Priester geweiht.
In den 80er Jahren lehrte Erdö Theologie in Esztergom und an der päpstlichen Universität Gregoriana. Nach dem Sturz des Kommunismus wurde er Dekan und später Rektor an der katholischen Peter-Pazmany-Universität Budapest, an deren Wiederaufbau er maßgeblichen Anteil hatte.
1999 wurde Erdö Weihbischof in Szekesfehervar (Stuhlweißenburg) und drei Jahre später, mit nur 50 Jahren, überraschend Erzbischof von Esztergom-Budapest und Primas von Ungarn. Im selben Jahr nahm ihn Johannes Paul II. als damals jüngstes Mitglied ins Kardinalskollegium auf. Von 2005 bis 2015 leitete Erdö als Vorsitzender die nationale Bischofskonferenz. Im Vatikan hat er eine Vielzahl von Funktionen inne, war unter anderem Richter am höchsten Gericht, Mitglied der Bildungs- und der Gottesdienstkongregation sowie im Päpstlichen Kutur- sowie im Wirtschaftsrat.
Vergleichsweise gerne spricht Erdö über die konfessionelle und kulturelle Vielfalt in Ungarn. Dem katholischen Portal Cruxnow sagte er im Vorfeld des Papstbesuchs, die Ungarn hätten zwar “über ein Jahrtausend die westliche christliche Kultur aufgenommen; aber sie grenzten und grenzen direkt an den osteuropäischen Kulturraum und gehörten in bestimmten Epochen zum türkischen Reich”.