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Umstrittene Tonkin-Resolution: Fast einstimmig in den Vietnamkrieg

Es ging um eine Bevollmächtigung zum Krieg: Nach einem angeblichen Angriff nordvietnamesischer Schnellboote auf US-Zerstörer im Golf von Tonkin vor der Küste Nordvietnams habe US-Präsident Lyndon B. Johnson militärische Vergeltungsschläge befohlen, berichteten Anfang August 1964 die Zeitungen. Der Präsident habe den Kongress aufgefordert, eine Resolution zu verabschieden, in der „alle notwendigen Schritte“ zur Verteidigung des „Friedens“ in Südost-Asien autorisiert würden. Dies war der Anfang vom Eintritt der USA in den Vietnamkrieg.

Der Kongress verabschiedete die sogenannte Tonkin-Revolution vor 60 Jahren, am 7. August 1964. Das Ergebnis im Repräsentantenhaus war einstimmig, im Senat gab es zwei Gegenstimmen. Heute gilt ihre Grundlage manchen als „Kriegslüge“.

Die Resolution hat das Fundament zum Einsatz von letztendlich 2,7 Millionen US-amerikanischen Soldaten in Vietnam gelegt. Mehr als 58.000 Namen Gefallener stehen auf dem schwarzen Denkmal zur Erinnerung an den Vietnamkrieg in Washington. Mehrere Millionen Vietnamesen wurden getötet. 1973 zogen die USA ihre letzten Kampfeinheiten aus dem Land ab.

Im August 1964 sprach Verteidigungsminister Robert McNamara von einem „grundlosen Angriff“ der Vietnamesen. Heute aber dokumentieren zahlreiche ehemals geheime Regierungsdokumente auf den Webseiten des US-Nationalarchivs und des Geschichtsforschungsinstituts „National Security Archive“: Der „Tonkin-Zwischenfall“ ist gar nicht so abgelaufen, wie von Johnson und von McNamara beschrieben. Der 2009 verstorbene McNamara bestätigte das im Dokumentarfilm „Fog of War“ (2003): „Es herrschte Verwirrung, und die Ereignisse später zeigten, dass unsere Beurteilung damals, dass an diesem Tag angegriffen worden ist, falsch war.“

Was passierte 1964 im Golf von Tonkin? Die Spannungen zwischen dem kommunistischen Nordvietnam und der Nationalen Front für die Befreiung von Südvietnam („Viet Cong“) einerseits und dem mit den USA verbündeten Südvietnam waren eskaliert. Mehrere tausend US-„Militärberater“ waren in Vietnam im Einsatz.

Im Golf von Tonkin unterstützte die US-Marine südvietnamesische Angriffe auf den Norden. Präsident Johnson, im Amt seit dem Attentat auf John F. Kennedy im November 1963, und das in einem Wahljahr, stand unter Druck: Er musste Stärke zu zeigen, wie Historiker Stanley Karnow in seinem Standardwerk „Vietnam: A History“ schrieb. Zugleich durfte der Präsident nicht zu aggressiv wirken.

Am 2. August 1964 waren US-Marineeinheiten im Golf von Tonkin unterwegs. Es kam zu einem Gefecht zwischen nordvietnamesischen Booten und dem US-Zerstörer „Maddox“, freilich mit keinem großen Schaden. Keine weitere US-Reaktion sei nötig, befand Johnson laut Karnow.

Dann kam der schicksalhafte 4. August, eine zweite Konfrontation. Oder auch nicht? Wie Archivdokumente heute zeigen, waren die Meldungen der Zerstörercrew verwirrend. Hatten die Vietnamesen geschossen oder nicht? Das ging nicht klar hervor. Johnson sprach dennoch im Fernsehen von „wiederholten Gewalttaten gegen die Streitkräfte der Vereinigten Staaten“. Zum ersten Mal ließ er Nordvietnam bombardieren.

Und der Präsident drängte den Kongress zu der Resolution. Er wollte Rückendeckung für künftige Militäraktionen; laut US-Verfassung kann nur der Kongress Krieg erklären. In einer Studie des historischen Büros des Senats heißt es: Johnson verlangte Befugnis, „alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um den bewaffneten Angriff auf die … Vereinigten Staaten zurückzuweisen“.

Beim Thema „Vietnamkrieg“ besteht heute die Versuchung, vornehmlich die massive Protestbewegung gegen den Krieg vor Augen zu haben. 1964 war die Realität anders: In Umfragen stellten sich rund 85 Prozent der US-Amerikaner hinter Johnsons Politik. Im Senat am 7. August äußerte sich nur ein Senator gegen die Resolution, Wayne Morse, aus dem Bundesstaat Oregon.

Ein zweiter Senator, Ernest Gruening aus Alaska, stimmte mit Morse. In der Minderheit zu sein, sei kein Beweis, dass man falsch liege, sagte Morse nach der Abstimmung. Die Geschichte werde zeigen, dass Gruening und er im Interesse des amerikanischen Volkes gehandelt hätten.

Die heute 80-jährige Penny Gross aus Virginia erinnert sich gut an Senator Morse. Sie hat bald nach der Tonkin-Resolution in dessen Büro als Rezeptionistin angefangen, war später befreundet mit Morse, der 1974 starb. Morse sei ein Skeptiker und ein prinzipientreuer Mann gewesen, sagte Gross dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Im Senat sagte Morse, er werde keiner „vordatierten Kriegserklärung“ zustimmen. Vor der Abstimmung habe er einen Hinweis „von jemandem weit oben in der Marine bekommen“, dass der „Vorfall nicht genauso stattgefunden“ habe wie von Johnson dargestellt, sagte Gross.

Morse und Gruening haben recht behalten. 1971 zog der Kongress die Resolution zurück. Johnson war vom Republikaner Richard Nixon abgelöst worden, in Vietnam fielen Napalmbomben, Agent-Orange-Gift entlaubte Wälder, und US-Amerikaner sahen im Fernsehen, dass sie den Krieg nicht gewinnen würden.