Die Tandems, die Sebastian Burger da am Samstag auf den Bremer Marktplatz stellt, sind echte Lastesel. „Mit Gepäck und Besatzung kommen schon bis zu 250 Kilo zusammen“, schätzt der Initiator der bundesweiten „Mut-Tour“. Also werden die Bremsen der Räder noch einmal besonders aufmerksam gecheckt. Alles in Ordnung. Dann geht es los: Nach dem Start in Bremen wollen mehrere 6er-Teams bis in den September radelnd und auch wandernd deutschlandweit ein Zeichen für mehr Offenheit und Wissen im Umgang mit Depressionen setzen.
Von Bremen führt die Strecke über Wolfsburg, Berlin, Leipzig, Erfurt, Kassel, Nürnberg nach Regensburg. Dann weiter über München, Stuttgart, Frankfurt, Saarbrücken, Bonn, Köln und Münster mit einem Abschluss in Osnabrück: Bis zum Ende am 3. September wollen die Teams 3.800 Kilometer zurücklegen. „Da lassen sich wunderbar Stresshormone wegstrampeln, Glückshormone werden ausgeschüttet“, schwärmt Sebastian Burger, der das Gemeinschaftserlebnis auf den insgesamt zehn Etappen herausstreicht: „Alle zusammen erleben, wie leistungsdruckfreier Sport, Struktur und Natur die Stimmung heben.“
Daran beteiligen sich in diesem Sommer 65 Aktive mit und ohne Depressionserfahrungen. Es gibt zwei Wanderungen, eine davon mit Pferden. Die Tiere helfen, das Gepäck zu tragen. „Und sie sorgen für eine ruhige Stimmung, da kommt man zu sich“, erzählt Mitorganisatorin Andrea Roosch (57), die in Bremen als depressionserfahrene Mutter eines psychisch erkrankten Sohnes eine Selbsthilfegruppe leitet, bei der Bewegung in Form von Spaziergängen ebenfalls eine wichtige Rolle spielt.
„Bewegung tut der seelischen Gesundheit einfach gut und ist genauso wirksam wie Medikamente“, bekräftigt Sebastian Burger. Das bestätigt beim Start auf dem Marktplatz der Bremer Psychiatrie-Chefarzt Uwe Gonther: „Nichts ist so wirksam wie Bewegung, am besten noch in der Gemeinschaft.“
Seit der ersten Sommer-Tour 2012 haben das Burger zufolge 250 Teilnehmende ausprobiert und dabei zusammengenommen an 925 Tagen quer durch Deutschland 46.000 Kilometer zurückgelegt – meistens auf Tandems. „Das ist einfach optimal: Das Chassis eint Menschen mit ganz unterschiedlicher Kondition“, hat der 44-jährige Tour-Organisator erfahren.
Nach Angaben der Stiftung Deutsche Depressionshilfe gehören Depressionen zu den häufigsten und hinsichtlich ihrer Schwere am meisten unterschätzten Erkrankungen. Bundesweit erkranken demnach jedes Jahr 5,3 Millionen Menschen an einer behandlungsbedürftigen Depression.
Gedrückte Stimmung bis hin zur Freud- und Gefühllosigkeit und das Fehlen von Interesse sind die Hauptmerkmale. Hinzu kommen meist ein permanentes Erschöpfungsgefühl, die Neigung zu Schuldgefühlen, hartnäckige Schlaf- und Appetitstörungen und das Gefühl der Ausweglosigkeit bis hin zu Suizidgedanken. Dazu kommt: Nach Angaben der Stiftung hat die große Mehrheit der jährlich etwa 9.200 Menschen, die durch einen Suizid sterben, an einer Depression gelitten.
Über die Krankheit reden, gegen die Stigmatisierung und die Isolation depressiver Menschen angehen – das sind Ziele der Tour, die Sebastian Burger ins Leben gerufen hat, nachdem er selbst erlebt hat, wie es einer WG-Mitbewohnerin ging, die an einer Depression erkrankte. „Sie hatte sich selbst stigmatisiert, wollte vermeiden, dass ihr Chef von der Krankheit erfährt.“ Am Ende habe sie sich gut stabilisiert. Aber Stigmatisierung sei nach wie vor ein großes Thema. „Alle sprechen drüber – aber nicht gerne über die eigene Depression.“ Dazu komme ein Versorgungsdefizit: „Im Durchschnitt dauert es 22 Wochen, bis man einen Therapieplatz bekommt.“
Tour-Schirmherr Willi Lemke, früherer Bildungssenator in Bremen und von 2008 bis 2016 UN-Sonderberater für Sport im Dienst von Frieden und Entwicklung, ruft deshalb beim Auftakt zur Offenheit auf. In Familien, mit Freunden und am Arbeitsplatz müsse über das Thema Depression gesprochen werden. „Wenn man nichts davon weiß, hat man Vorurteile und stigmatisiert Menschen“, warnt Lemke, der auch lange Manager des Fußball-Bundesligisten Werder Bremen war.
Dagegen geht die Initiative des Trägervereins „Mut fördern“ an, in diesem Jahr unter dem Motto „Mut zur Selbsthilfe – Unterstützung sichtbar machen“. „Bisher hat es in den vergangenen Jahren über die Mut-Tour 4.500 Berichterstattungen in lokalen Tages- und Wochenzeitungen gegeben, dazu Internet-Veröffentlichungen und ein paar Hundert lokale TV- und Radio-Feature“, freut sich Sebastian Burger über die Resonanz. Und der Spaß kommt auch nicht zu kurz, schwärmt Andrea Roosch: „Das ist ein tolles Abenteuer. Das gute Gefühl, selbst aktiv sein zu können, wächst mit jeder Etappe.“