Von Michael Jacquemain
Heiner Geißler kann beides, und er kann beides sehr gut: Streit an-zetteln und Streit schlichten. Willy Brandt warf dem ehemaligen CDU-Generalsekretär 1985 vor, der „schlimmste Hetzer seit Goebbels“ zu sein. Seit knapp zwei Jahrzehnten vermittelt der Sozialpolitiker regelmäßig in Tarifauseinandersetzungen und mühte sich auch, im eskalierenden Konflikt um das Bahnprojekt Stuttgart 21 die Wogen zu glätten. Am 3. März wird das Mitglied des globalisierungskritischen Vereins Attac 85.
Mit dem Alter abgeklärter geworden
Lange Zeit war Geißler aber weniger als Gegner von Turbokapitalismus und Neoliberalismus bekannt, sondern als Hau-Drauf der deutschen Politik. Legendär ist der Vorwurf des damaligen CDU-Generalsekretärs, die SPD sei die „fünfte Kolonne“ Moskaus. Für bundesweite Empörung sorgte auch sein Vorwurf, „ohne den Pazifismus der 30er Jahre wäre Auschwitz nicht möglich gewesen“.
Seit längerem aber wirkt der in Oberndorf am Neckar geborene Schwabe deutlich abgeklärter. Die Freund-Feind-Bilder von ihm und über ihn haben sich gewandelt. Er räumte selbst ein, manches würde er heute nicht mehr so formulieren. Viele, die sich damals über ihn aufregten, loben ihn heute als einen der bedeutendsten Parteima-nager der Bundesrepublik. Geißler selbst meint indes nicht, dass sich seine Überzeugungen groß geändert hätten.
„Ich war zwölf Jahre lang Generalsekretär, und in dieser Funktion muss man die Speerspitze sein“, begründet der promovierte Ex-Richter seine harschen Äußerungen mit Rollenzwängen. Sein politisches Engagement sieht er wesentlich durch Elternhaus, Schule und Noviziat bei den Jesuiten geprägt. Den Jesuiten ist Geißler „heute noch dankbar, dass ich in Sankt Blasien war“. Die ideellen Werte, die er dort erlernt habe, habe er in die Politik mitgenommen: Politik sei Berufung; der Beruf des Politikers vergleichbar mit dem des Priesters.
Geißler war Sozialpolitiker mit Ehrgeiz: Als Minister setzte er von 1967 bis 1977 in Rheinland-Pfalz das erste Kindergartengesetz durch, führte erstmals Sozialstationen ein und erregte Mitte der 1970er Jahre Aufsehen mit seinem Buch über die „neue soziale Frage“. Damit wollte er die Situation derer verbessern, deren soziale Sicherung nicht unmittelbar aus einem Arbeitsverhältnis abgeleitet oder deren Interessen nicht durch Verbände und Gewerkschaften vertreten wurden. Gemeint waren ältere Rentnerinnen, Familien oder Studenten.