Der gewaltige Turm des Ulmer Münsters zieht immer wieder illegale Kletterer und Aktivisten mit Protestbotschaften an. Wie Ulms evangelischer Dekan Torsten Krannich erläutert, sind derartige Aktionen ein unkalkulierbares Risiko – für die Akteure und die Hilfskräfte.
epd: Herr Dekan, immer wieder kommt es zu illegalen Kletter-Aktionen am Turm des Ulmer Münsters, wie beispielsweise vor kurzem ein Protest von Klima-Aktivisten. Wie gefährlich sind derartige Aktionen?
Krannich: Ganz grundsätzlich gilt für jeden: Egal ob als Protest-Aktion oder für den eigenen Nervenkitzel, wer am Turm klettert, begibt sich in Lebensgefahr. Denn der Turm ist keine vom TÜV überprüfte Kletterwand, sondern ein historisches, äußerst fragiles Bauwerk, das dafür einfach nicht gemacht ist. Obwohl der Turm wuchtig und massiv aussieht, können beispielsweise einzelne Steine porös sein, weil sie über Jahrhunderte einer Temperaturschwankung von bis zu 110 Grad ausgesetzt waren – im Sommer, wenn die Sonne tagelang auf sie scheint, erwärmen sie sich bis zu 80 Grad, im Winter kommt es dafür zu 30 Grad Minus.
epd: Gab es diese Gefährdungen auch bei der letzten Klima-Aktion?
Krannich: Sogar in ganz besonderer Weise. Denn die Kletterer hatten ihr Seil an einer „Kreuzblume“, also einem Zierstein am Turm, befestigt, die nur von einem fingerdicken Stahlstift gehalten wird. Das ist überhaupt nicht geeignet, dass sich da jemand mit seinem gesamten Körpergewicht dranhängt. Wenn der Stift bricht, wäre ein tödlicher Absturz die Folge, was ein absoluter Albtraum wäre.
epd: Waren neben den Aktivisten auch Hilfskräfte durch ihren Einsatz gefährdet?
Krannich: Das ist unvermeidlich. Denn im Gegensatz zu „Roofern“, die heimlich rauf- und runterklettern und ihre Aktion mit Video aufnehmen, wollten die Aktivisten öffentliche Aufmerksamkeit. Deshalb musste sie die Polizei mit einem Spezialeinsatzkommando (SEK) vom Turm holen, wobei auch eine Hebebühne eingesetzt wurde. Ein Kran musste bis auf einen halben Meter an den Münsterturm heranfahren, bei den starken Winden in dieser Höhe gab es einen Ausschlag von bis zu drei Metern, die der Kran hin- und herschwankte. Die Aktivisten haben also auch die Gefährdung anderer Menschen willentlich in Kauf genommen. Das finde ich extrem ärgerlich.
epd: Um illegale Klettereien am Turm möglichst zu erschweren, hat die Kirche bereits einiges unternommen, etwa, dass keine Gerüste am Fuß des Turms stehen oder Kameras zur Überwachung installiert wurden. Wären noch weitere Schutzmaßnahmen denkbar?
Krannich: Wir kommen uns da wie beim Märchen von Hase und Igel vor. Die Münsterbauhütte prüft aktuell, ob man Stacheldraht in bestimmten Bereichen anbringen kann. Aber klar ist, wir wollen und können aus dem Münster nicht Fort Knox machen.
epd: Wie sehen Sie als Theologe die Botschaft „Jesus wäre Klima-Aktivist“ des Protestplakats?
Krannich: Dieses Plakat fand ich sehr irritierend. Es stimmt zwar, dass Jesus radikal gehandelt hat, aber nicht mit Aktionen, die andere Menschen gefährden. Ich halte dieses Plakat für eine unzulässige Instrumentalisierung und eine extrem verkürzte Deutung von Jesus Christus und seiner Botschaft. Natürlich ist die Bewahrung der Schöpfung eine ganz zentrale Aufgabe für die Kirche und ihre Verkündigung. Allerdings kann und muss die Kirche den Finger in die Wunde legen, aber die konkrete Festlegung von Klimaschutzgesetzen ist hingegen Sache der Politik. Ich bin zum Beispiel persönlich sehr für ein Tempolimit auf Autobahnen, würde aber nicht darüber predigen, denn das ist eine genuin politische Entscheidung. Wer hier Veränderungen will, muss den Weg über unsere Parlamente gehen. Als konkrete Maßnahme heizen wir schon seit Jahren das Münster nicht mehr im Winter, weshalb dann die Gottesdienste bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt bei ein Grad stattfinden.
epd: Können Sie sich vorstellen, dass der weit sichtbare Münster-Turm überhaupt für Botschaften, wie etwa Friedensappelle, genutzt werden kann?
Krannich: Nein. Ganz generell soll der Kirchturm nicht zur Litfaßsäule werden – egal für welchen Zweck. Jede angebrachte Botschaft provoziert die Frage nach der individuellen Einschätzung der Verantwortlichen, was wichtig ist und was nicht und wo die Grenzen sind. Unser Kirchengebäude wird auch als Bürgerkirche ein Ort der Neutralität bleiben, das gilt auch für den Turm, der in traditioneller Vorstellung die Verbindung zwischen Erde und Himmel verdeutlichen soll.
epd: Wann kann der Turm wieder auf die höchste Plattform in 142 Metern erstiegen werden?
Krannich: Das sollte 2027 zum 650. Jubiläum des Münsters wieder möglich sein, dann sollten die Sanierungsmaßnahmen abgeschlossen und noch offene Fragen etwa zum Brandschutz geklärt sein. Dafür würde ich auch etwas Druck machen. Allerdings muss der Zeitplan natürlich auch in die Abläufe der Münster-Bauhütte passen.
epd: Dann ist der Münsterturm womöglich nicht mehr der weltweit höchste Kirchturm, weil in Barcelona der Turm der Kirche Sagrada Familia sogar über 172 Meter hoch werden soll….
Krannich: Damit habe ich überhaupt kein Problem, und auch die Stadt Ulm sieht das nach meiner Einschätzung völlig entspannt. Es wird hier jedenfalls niemand auf die absurde Idee kommen, den Münsterturm zu verlängern, um den Rekord zu halten. Der Ulmer Turm war fast 140 Jahre lang der höchste Kirchturm der Welt, jetzt ist eben ein anderer dran. Es geht hier nicht um irgendwelche Superlative, das Münster bleibt auch in Zukunft ein beeindruckendes sakrales Gebäude mit einer großen Strahlkraft. (1662/23.07.2024)