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Spektakel am Abendhimmel

Der Zug der Kraniche hat begonnen: Wenn die Tage kürzer und kälter werden, zieht es sie in den Süden. Auf ihrem Weg machen sie halt in Mecklenburg-Vorpommern und im Norden Brandenburgs

imageBROKER/Frank Sommariva

Nur einige Kilometer südlich der vorpommerschen Kleinstadt Anklam ist die Welt eine andere.
Schmale, kaum befahrene Straßen, weite Felder: Das Peenetal ist für Kraniche auf ihrem Flug in den Süden ein wichtiges Rastgebiet. Hunderte von ihnen versammeln sich in diesen Tagen dort, um im Stehen in den wassergefüllten Wiesen der Flussauen zu schlafen und sich für den Weiterflug zu stärken.
„Hier sind die scheuen Vögel sicher vor Füchsen und anderen Feinden“, sagt Landschaftsführer Günther Hoffmann. Er begleitet Touristen zum Schauspiel des „Zu-Bett-Gehens“ der Vögel. Doch an diesem Abend ist er nicht sicher, ob Kraniche zu der Beobachtungsstelle kommen. Als er am frühen Morgen dort war, habe er einen Besucher maßregeln müssen, der mit seinem Auto an das Gewässer herangefahren war und Hunderte der Vögel auf einmal aufgescheucht hatte.

Kraniche dürfen nicht gestört werden

„Es ist ganz wichtig, die Kraniche nicht zu stören“, sagt Hoffmann. Die Tiere reagieren sehr sensibel auf Störungen und fliegen schon bei einer Annäherung auf etwa 300 Meter auf. „Im schlimmsten Fall meiden sie den Rastplatz künftig.“ Deshalb muss sich die Besuchergruppe am Abend auch hinter einem Baum verstecken.
Über den Kranich wird schon in der Mythologie als Glücksbringer berichtet. Auf altägyptischen Grabplatten ist er genauso zu finden wie in russischen Märchen. In Indien verehrt man ihn als Gott, in China als göttlichen Himmelsboten und Symbol für Weisheit und langes Leben, in Japan werden Papierkraniche als Glücksbringer gefaltet.
„Die Schönheit der Kraniche und ihre spektakulären Balztänze haben schon in früher Zeit die Menschen fasziniert“, sagt Landschaftsführer Hoffmann. Der Vogel – aschgraues Grundgefieder, schwarzer Kopf und Oberhals – war ein Symbol der Wachsamkeit und Klugheit. Bis heute gilt er als „Vogel des Glücks“. Diesen Namen soll er in Schweden bekommen haben, wo sein Erscheinen im Frühjahr das Ende der dunklen, kalten Zeit einläutet. Der fliegende Kranich ist außerdem ein beliebtes Markenzeichen von Fluggesellschaften, die Lufthansa verwendet ihn seit 1926 als Firmenzeichen.
Die Kraniche mit ihrer Flügelspanne von über zwei Metern sind ausdauernde Flieger. „Sie können bis zu 2000 Kilometer nonstop zurücklegen, wobei kürzere Tages­etappen von zehn bis 100 Kilometern eher die Regel sind“, erklärt Günther Hoffmann der Besuchergruppe, die mit Ferngläsern und Fotokameras ausgestattet ist.
Bis Ende der 80er Jahre galten die Tiere noch als selten, doch heute hat sich ihr Bestand vervielfacht. Grund sind unter anderem die nach 1990 ausgewiesenen strengen Schutzgebiete des Nationalparks Vorpommersche Boddenlandschaft. Dort finden die Kraniche optimale Bedingungen ohne Störung durch den Mensch.
Kraniche dürfen in Deutschland nicht gejagt werden. Die Allesfresser brüten in ganz Skandinavien. In Mitteleuropa sind sie in Polen und Tschechien sowie im Norden und Osten Deutschlands zu finden. Während es mittlerweile wegen der guten Nahrungslage zunehmend auch Kraniche gibt, die in Deutschland überwintern, sammeln sich die meisten im Herbst zum Zug in den Süden.
Im Peenetal will sich gerade die Sonne glutrot am Himmel verabschieden, als Günther Hoffmann die Hand hinter das Ohr legt, um besser hören zu können: „Still sein, nicht bewegen, sie kommen.“ Kurz darauf fliegen Hunderte Kraniche mit ihrem trompetenartigen Rufen dicht über die Touristen-Köpfe hinweg. Elegant landen sie im flachen Wasser.
4000 mögen es an diesem Abend sein, schätzt Hoffmann. Sie bleiben bis Ende Oktober, Anfang November. Dann geht es in ihre Überwinterungsgebiete, die vor allem in Spanien und Frankreich liegen. Bis dahin, schätzt Hoffmann, werden sich bis zu 10 000 Kraniche im Peenetal gesammelt haben.