Jesus was a sailor“ – „Jesus war ein Seemann“?! Das hatte ich noch nie zuvor gehört. Dass Jesus auf einem hölzernen Turm Ausschau nach Ertrinkenden hält und sie erlöst, steht nicht in der Bibel. Und selbst wenn: Hätte mein Pastor darüber gepredigt, es hätte mich nicht interessiert. Nun aber sang Leonard Cohen mit berückend knarziger Stimme von Jesus, der ein „Sailor“ gewesen sei und – wie mysteriös! – „broken“ war: „gebrochen“. Dieses ungewöhnliche Jesus-Lied erreichte mein Teenager-Herz mehr als die Lieder, die ich in der Kirche hörte und mitsingen sollte.
Der Song setzte eine Neugier auf die Bibel bei mir in Gang. Über Jesus wollte ich mehr wissen. Fortan hörte ich genauer hin, wenn neue Songs rauskamen. Von Bob Dylan, den Rolling Stones, Tina Turner, Whitney Houston und all den anderen. Ich staunte darüber, wie viele Songtexte von biblischen Themen und Geschichten handeln.
Das Staunen ist mir über viele Jahrzehnte nicht vergangen. So viele Songs sind auf meiner biblischen Playlist, dass sich beinahe die Bibel damit nacherzählen ließe. Doch die Musikerinnen und Musiker erzählen die Bibel nicht nur nach. Für sie ist das Buch eine unerschöpfliche Inspirationsquelle. Mit viel Fantasie führen sie die biblischen Geschichten weiter. Mit Popsongs lässt sich sogar eine Bibelkunde der anderen Art schreiben.
Schöpfung
Bob Dylan: „Man Gave Names to All the Animals“ 1. Mose 2,19f.
Adam, der erste Mensch, hatte eine herausfordernde Aufgabe von Gott bekommen: Er sollte den Tieren, die frisch erschaffen in Paradies lebten, Namen geben. Wie das geschehen sein könnte, überlegte sich 1979 Bob Dylan. In coolem Reggae-Rhythmus und mit kindhaftem Wortwitz versetzte er sich in Adam hinein, der die Tiere genau anschaut und dann schließlich auf Namen kommt, die sich auf die Eigenschaften der Tiere reimten.

Die Opferung Isaaks
Leonard Cohen: „Story of Isaac“ 1. Mose 22
Songpoet Leonard Cohen erzählt diese abgründige Geschichte auf seine Weise: Er schlüpft in die Rolle des Isaak und stellt sich vor, wie sein Vater Abraham eines Morgens ins Zimmer kommt und mit eiskalter Stimme sagt: „Ich hatte eine Eingebung. Du weißt: Ich bin stark und heilig, ich muss tun, was mir gesagt wird!“ Dann muss Isaak mit seinem Vater in die Berge ziehen. Abraham hat eine goldene Axt dabei. Als er sie erhebt, hält er zitternd inne – kein Engel, sondern die „Schönheit des Wortes“ habe ihn von der Bluttat abgehalten, singt Cohen mit mystischer Poesie.
U2: „40“ Psalm 40
Bono, der Sänger der irischen Band U2, hat seinen christlichen Glauben nie verschwiegen. Als die Band 1983 im Studio war und morgens um sechs Uhr noch ein Song fehlte, schlug er die Bibel auf und landete bei Psalm 40. „Gott hat mir ein neues Lied in den Mund gegeben“, heißt es da. Das passte genau. In zehn Minuten entwickelte Bono mit seiner Band eine Melodie, als Text griff er sich ein paar Zeilen aus dem Psalm heraus. „Oh Lord let me sing you a song!“
Mahalia Jackson: „Peace in the Valley“ Jesaja 11
„Einst werde ich im Tal Frieden für mich finden – keine Traurigkeit mehr, keine Sorgen, kein Ärger!“ Soul- und Gospel-Queen Mahalia Jackson legte ihr ganzes Gefühl und all ihre Glaubenshoffnung in diesen Song, Elvis Presley macht ihn zu einem Hit, Johnny Cash sang ihn auch im Gefängnis. Die wunderschönen Visionen des biblischen Propheten Jesaja über das himmlische Friedensreich werden zum Hit.
Lady Gaga: „Judas“ Johannes 18,1-11
Maria Magdalena, ehemalige Prostituierte und Jesus-Jüngerin, verliebt sich ausgerechnet in den Verräter Judas? US-Dancepop-Ikone Lady Gaga wagt diese auf den ersten Blick abwegige, beim zweiten Nachdenken aber tiefsinnige Bibelerweiterung. Maria sei ausgerechnet Judas verfallen. Aus den Liebesfängen des Verräters könne sie sich nicht befreien – aber will ihn zu Fall bringen. Am Ende wird sie gesteinigt. Künstlerische Freiheit im Gaga-Stil.
Tracy Chapman: „Heaven‘s here on Earth“ Matthäus 3,2
Manche suchen den Himmel in den Sternen – dabei ist er doch schon hier auf Erden! Songwriterin Tracy Chapman holt Gott auf den Boden der Wirklichkeit zurück, mitten in den Alltag – mit allen offenen Fragen, mit aller Freude und allem Leid. Für das Leid sei Gott nicht verantwortlich, meint sie – Leid tun sich Menschen gegenseitig an. Trotzdem gebe es etliche Spuren des Himmlischen auf der Erde. „Die Welt ist unsere Kirche“, singt sie am Ende.

Bruce Springsteen: „Jesus was an Only Son“ Johannes 19,25
Jesus ist auf dem Kreuzweg nach Golgatha, er hat den qualvollen Tod vor Augen; seine Mutter Maria muss hilflos zusehen. So könnte es vor 2000 Jahren in Jerusalem gewesen sein. Dieses berühmte Motiv berührte auch den katholisch aufgewachsenen Rockmusiker Bruce Springsteen. „Jesus was an Only Son“ heißt sein Song über das innige Verhältnis zwischen Maria und Jesus. Er ist eine Hommage an die unzertrennliche Verbindung zwischen Müttern und ihren Kindern.
Meine „Pop-Bibel“-Playlist
Viele Christen empfehlen die fromme Praxis des stillen Bibellesens: An jedem Tag, meist am Morgen, solle man einen biblischen Text meditieren. Eine Zeitlang habe ich es versucht. Inzwischen bin ich umgestiegen: An jedem Tag höre ich einen Song aus meiner „Rock-Bible“-Playlist. Schwelge in der Jesus-„Hymn“ von Barclay James Harvest, frage mich mit Joan Osborne, wie es denn wäre, wenn Gott „One of Us“ wäre und möchte mich wie Marius Müller-Westernhagen von Engelsflügeln zudecken lassen („Engel“).
Meine protestantische Hochschätzung des Wortes hat einen Dämpfer bekommen, seit ich spüre, wie Musik die frohe Botschaft viel tiefer im Herzen verankert als Texte es vermögen.
In Theologenkreisen riskiere ich dafür ein Naserümpfen. Auf Partys tanzen die zwar auch mal gern zu „Sympathy for the Devil“ oder grölen mit auf dem „Highway to Hell“. Doch kaum sitzen sie wieder am Schreibtisch oder stehen auf der Kanzel, werden sie zu Bedenkenträgern: Viele von den Songs in meiner Spotify-Playlist „Pop-Bibel“ seien doch theologisch fragwürdig. Ich als Theologe dürfe doch mein Bibel-Hintergrundwissen nicht von Pop-Songs übertönen lassen.
Das ficht mich nicht an. Glaube findet im Herzen und in der Seele statt. Und da zählen keine Argumente, sondern Gefühle. Die werden heute durch Pop-Songs geweckt. Das ist bei mir so – und bei unzähligen anderen. Es geht eben nicht nur darum, dem Volk aufs Maul zu schauen, wie Martin Luther sagte; heute geht es auch darum, dem Volk in die Playlist zu schauen.