Sinti und Roma sind die größte Minderheit Europas. Zugleich sind sie besonders von Diskriminierung betroffen. Am Internationalen Roma-Tag wird bei einem Empfang im Familienministerium an ihre Verfolgung erinnert.
Sieben Teenie-Darstellerinnen verlesen auf einer Bühne im Bundesfamilienministerium Schlagzeilen aus den letzten Jahrzehnten. “Mit Molotowcocktails haben Täter ein Haus attackiert, das Sinti und Roma bewohnen. Die Polizei vermutet einen rechtsradikalen Hintergrund”, lautet eine. Eine andere: “‘Lasst sie brennen’ – Gaffer schimpfen vor brennendem Haus, in dem Romani lebten.” Um Brandanschläge geht es in allen. Im Anschluss erklingt basslastige, bedrohlich klingende Musik. Die Teenager rappen: “Keiner verbrennt unser Haus!”
Das junge Hamburger Theater-Ensembles Romplay präsentiert am Montag sein selbst entwickeltes Stück “Romanilution” bei einem Empfang im Ministerium anlässlich des Internationalen Roma-Tags. Der 8. April erinnert an den ersten Weltkongress der Roma-Bürgerrechtsbewegung im Jahr 1971, bei dem “Roma” als Selbstbezeichnung bestimmt wurde, sowie eine Hymne und eine Flagge.
Eingeladen hatten Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) und der Antiziganismus-Beauftragte der Bundesregierung, Mehmet Daimagüler. “Als die größte Minderheit Europas erleben Sinti und Roma bis heute Diskriminierung und Gewalt”, mahnte Paus an. “Und jeder Fall ist einer zu viel.”
Unter Antiziganismus versteht man eine spezifische Form des Rassismus, der sich gegen Sinti und Roma richtet. Bis zu einer halben Million wurden in der NS-Zeit verfolgt und in Konzentrationslagern systematisch ermordet. Bis heute beklagen Vertreter der Minderheit Stigmatisierung, indem sie etwa als “Zigeuner” bezeichnet werden.
Mit der Anerkennung ihres Leids hat sich die Bundesregierung Zeit gelassen: 37 Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs, im Jahr 1982, erkannte der deutsche Staat die Verfolgung der Minderheit an. 2022 wurde mit Daimagüler der erste Antiziganismusbeauftragten ernannt. Im Folgejahr die Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (MIA) eingerichtet mit fünf Standorten bundesweit. In diesem Jahr sollen eine Kommission zu Antiziganismus sowie eine zur Aufarbeitung von Unrecht gegenüber Sinti und Roma folgen.
Um die gesellschaftliche Wirklichkeit von Sinti und Roma zu illustrieren, erzählt Ministerin Paus eine Anekdote. Im Gespräch mit einer Kollegin hinsichtlich der Planung des Empfangs habe diese zu Paus gesagt, sie fühle sich mit der Thema unsicher, da sie selbst keine Sinti und Roma kenne. Erst im Nachgang des Gesprächs habe sich herausgestellt, dass der Partner der Kollegin einer Roma-Familie angehöre. Seine Großmutter hatte es nur lange verschwiegen. “Zur Wahrheit gehört auch, dass aus Scham oder Angst, ausgegrenzt oder diskriminiert zu werden, ganze Familiengeschichten verschwiegen worden sind”, so Paus.
Der Antiziganismus-Beauftragte und Rechtsanwalt Daimagüler spricht von mehr als 300 Begegnungen in seinen zwei Jahren im Amt, “die es in sich hatten”. Besonders sei ihm eine junge Romni in Erinnerung geblieben, die er beim Holocaust-Gedenktag in der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Auschwitz kennengelernt habe.
Die junge Frau lebe in einer mittelgroßen Stadt in Westdeutschland. Aus dieser Stadt seien während der NS-Zeit auch Mitglieder ihrer Familie ins KZ deportiert worden. Heute mache sie dennoch in ebendieser Stadt ihre Ausbildung in der Stadtverwaltung. “Was für ein Geschenk ist es für unser Land, dass dieser junge Mensch genug Vertrauen hat, heute in einem Amt zu arbeiten, dass vor zwei, drei Generationen noch seine Familie zusammengetrieben, in Waggons gesperrt und nach Auschwitz gebracht hat?”
Heute verschweige sie dennoch vor ihren Kolleginnen und Kollegen, dass sie eine Romni sei. Sie höre ja, wie die redeten. Da habe sich Daimagüler geschämt. “An Gedenktagen legen wir Kränze nieder für die Toten”, so der Beauftragte. Das sei richtig, aber auch verlogen. “Wir ehren die Toten und entehren am nächsten Tag die Lebenden, verachten ihre Nachkommen”, so Daimagüler. “Das geht einfach nicht.”