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Simone Weil – die moderne Mystikerin

Simone de Beauvoir sagt über Simone Weil: „Ich beneidete sie um ein Herz, das imstande war, für den ganzen Erdkreis zu schlagen.“ Am 24. August vor 80 Jahren starb die Mystikerin.

Simone Weil
Simone Weilwikimedia (Fotograf unbekannt)

„Ich beneidete sie um ein Herz, das imstande war, für den ganzen Erdkreis zu schlagen.“ So beschreibt die französische Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Simone de Beauvoir in ihren Memoiren Simone Weil, die Sozialaktivistin, die Philosophin und moderne Gottsucherin. Aus gutbürgerlichen jüdischen Verhältnissen stammend, war Weil von äußerster Empfindsamkeit gegenüber dem Leid von Menschen, die schlechter gestellt waren. Schon als Gymnasiastin trat sie für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiter ein.

Als Lehrerin führte sie deren Protestmärsche an. Die Hälfte ihres Gehalts gab sie Arbeitslosen. Um die Lebensumstände der Arbeiter zu teilen, arbeitete die zeitlebens körperlich fragile Frau ein knappes Jahr in verschiedenen Fabriken. Später schrieb sie darüber: „Dort ist mir für immer der Stempel der Sklaverei aufgeprägt worden, gleich jenem Schandmal, das die Römer den verachtesten ihrer Sklaven mit glühendem Eisen in die Stirn brannten. Seither habe ich mich immer als einen Sklaven betrachtet.“

Mit dieser zugespitzten Formulierung brachte Weil das Ausgeliefertsein von Menschen an Umstände zum Ausdruck, die Leib und Seele zerrütten. Und ihre Solidarität mit ihnen, die sie auf ungewöhnliche Weise bewies, indem sie sich, manuell unbegabt und unter dauerndem Kopfschmerz leidend, dem Akkorddruck und Maschinengedröhn ausgelieferte. Das entsprach der radikalen Konsequenz, mit der Weil nach der Einheit von Erkenntnis und Tat strebte.

Weg hin zur Religiösität

In einem areligiösen Elternhaus aufgewachsen, war sie zunächst strenge Agnostikerin. Sie fühlte sich allerdings christlichen ethischen Grundsätzen verpflichtet wie tätiger Nächstenliebe und einem franziskanischen Armutsideal. Nach Abschluss ihres Studiums der Philosophie unterrichtete sie dieses Fach an Gymnasien und engagierte sich für die Besserstellung der französischen Arbeiter. 1936 nahm sie kurzzeitig auf Seiten der Anarchisten am Spanischen Bürgerkrieg teil. Seit jenem Jahr wandte sich Weil vermehrt religiösen Fragen zu und erwog, sich katholisch taufen zu lassen. Davon hielt sie aber der Ausschluss vieler Traditionen außerchristlicher Religionen und philosophischer Ansichten durch die kirchlichen Lehrsätze zurück.

Von Gott überwältigt

Weil schrieb tiefgründige Texte über das Verhältnis des Verstandes zu jenen Seelenkräften, die dem Glauben zugänglich sind, über soziale und religiöse Entwurzelung und Beheimatung, über das Unglück und die Erlösung. Sie machte eigentümliche religiöse Erfahrungen. So beim Sprechen eines „Liebe“ betitelten religiösen Gedichts aus dem 17. Jahrhundert. Darüber schrieb sie: „Einmal, während ich es sprach, ist Christus selbst herniedergestiegen und hat mich ergriffen. Ich empfand durch das Leiden hindurch die Gegenwart einer Liebe gleich jener, die man in dem Lächeln eines geliebten Antlitzes liest.“

Weil hatte Gott nicht gesucht. Nun wurde sie von ihm gewissermaßen überwältigt. Das geschah ihr mehrfach. Auch ihre theologischen Anschauungen waren ungewöhnlich, originell und provokant. So meinte sie, der Logos, Gottes Wort, habe auch in den außerchristlichen Religionen vor und nach Jesus Christus gewirkt. Und es habe bereits vor seinem Erscheinen christusähnliche Inkarnationen Gottes gegeben, auch so etwas wie seine sakramentale Gegenwart.

Flucht vor der Gestapo

1940 floh Weil vor der Gestapo zunächst nach Vichy, 1942 nach London, wo sie für Charles de Gaulles Befreiungskomitee arbeitete. Aus Solidarität mit denen, die den Weg zur Kirche nicht finden, wollte sie auf der Schwelle vor dem Eintritt in die Kirche verharren, trotz ihrer Sehnsucht nach den Sakramenten, vor allem nach der Eucharistie. Aber es sieht danach aus, als ob sie die Schwelle doch überschritten hat. Der Dominikanerpater Perrin hat bezeugt, dass sie sich von ihrer Freundin Simone Deitz im Krankenzimmer in London kurz vor ihrem Tod taufen ließ. Wohl auch aus Trotz, denn kurz zuvor hatte ihr ein französischer Priester gesagt, dass ihre Positionen mit der Taufe unvereinbar seien. Wenig später starb sie, am 24. August 1943, 34 Jahre alt, an Hunger und Herzversagen infolge einer Lungentuberkulose. Aus Solidarität mit französischen Kriegsgefangenen und Kindern hatte sie kaum noch gegessen.

Im Universum gegenwärtig

Die moderne Mystikerin, die politische Aktivistin und religiöse Denkerin Simone Weil hinterließ uns Worte wie diese: „Die Schönheit der Welt ist Christi zärtliches Lächeln für uns quer durch die Materie hindurch. Er ist wirklich gegenwärtig in der allumfassenden Schönheit. Die Liebe zu dieser Schönheit geht aus Gott hervor, der in unsere Seele herabgestiegen ist, und geht auf Gott zu, der im Universum gegenwärtig ist.“

Antiquarische Lesetipps:

Die mit Weil befreundete Philosophin Simone Pétrement schrieb das Buch: „Simone Weil. Ein Leben“, Universitätsverlag, Leipzig 2008, 753 Seiten, 151,99 Euro

Eine Einführung in Leben und Denken von Simone Weil gibt: Reiner Wimmer, „Simone Weil. Person und Werk“, Herder Verlag, Berlin 2009, 300 Seiten, 15,26 Euro

Zum geistlichen Weg von Simone Weil: Christian Heidrich „Die Konvertiten“, Seiten 277-295, Carl Hanser Verlag, München 2002, 381 Seiten, 24,90 Euro

Gunnar Lammert-Türk ist freier Autor