Die gepolsterten Bänke an den cremefarbenen Wänden sind voll besetzt an diesem Morgen. Der Geruch von Armut liegt in der Luft der Dortmunder Bahnhofsmission – nach selbstgedrehten Zigaretten, altem Schweiß, im Freien verbrachten Nächten – und mischt sich mit dem von frischem Kaffee. Hassan Abukassem sitzt hinter dem Tisch mit Tassen, Tee- und Kaffeekannen. Er trägt die leuchtend blaue Weste der Bahnhofsmission, blickt in die Gesichter der Gäste.
Eine Frage, die Türen öffnet, keinen unter Druck setzt
Der Frühdienst ist still heute: Alle Besucher schweigen mit gesenktem Blick. Und so schweigt auch er, lächelt, wenn jemand seinen Blick sucht, bereit für ein Gespräch, wozu auch immer. Heute sofort nach dem Aufschließen hat er mit einem Stammgast Wohnungsanzeigen in der Lokalzeitung durchgeschaut, freut sich noch, „dass der endlich wieder sucht“. „Was kann ich für Sie tun?“, wird er fragen, wenn ein neuer Besucher hereinkommt.
Eine Frage, die hier alle stellen, weil sie „am besten als Türöffner funktioniert“ und niemanden unter Druck setze, sich und seine Situation zu erklären, sagt Swetlana Berg, schon seit 16 Jahren Leiterin der Bahnhofsmission in Dortmund. Einer Ruhrgebietsstadt, in der mehr als jeder Fünfte von Armut bedroht ist, weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens hat, und jedes dritte Kind von Hartz IV lebt, so eine aktuelle Studie der Bertelsmann Stiftung . Obdachlos gemeldet sind nach Angaben der Stadt etwa 400 Menschen. Armut ist das bestimmende Thema der Bahnhofsmission – neben der Betreuung alleinreisender Kinder, Umsteige- und Begleithilfe für Reisende.
Lebensgeschichten, die ganze Bücher füllen
Und diese Armut zeigt immer wieder ein anderes Gesicht. Derzeit ist es das von Jugendlichen und jungen Volljährigen, die auf der Straße oder mal hier, mal da wohnen. Viele waren bis zum Alter von 18 Jahren in Jugendhilfe-Einrichtungen, „kommen nun in den eigenen Wohnungen aber nicht zurecht“, beobachtet Swetlana Berg. Und es finden deutlich mehr über 65-Jährige mit sozialen Problemen den Weg in die Mission. Rund 22 500 Menschen suchten 2016 Hilfe im Bahnhof, etwa 8000 weniger als vor zehn Jahren.
Die Leiterin der Bahnhofsmission kann ganze Bücher mit Lebensgeschichten füllen. „Die Menschen sind ehrlich zu uns, weil sie hier anonym sind und wir jeden so akzeptieren, wie er gerade ist – mit allen Nöten und Problemen“, betont sie. Einige Geschichten berührten die gelernte Kinderkrankenschwester besonders. Etwa die eines Mannes, der „ganz offensichtlich auf der Straße schlief, körperlich verwahrloste und apathisch wirkte“. Über sein Leben wollte auch er zunächst nicht sprechen. Schließlich erzählte er sie aber doch, seine Lebensgeschichte: der Weg eines Mitte 40-Jährigen mit gutem Job aus dem reichen Dortmunder Süden, Haus und glücklicher Ehe, der ihn ins Bahnhofsleben führte.
13 Menschen aus seinem Umfeld starben innerhalb eines Jahres, zuletzt seine Frau bei einem Autounfall. Danach wurde er apathisch, bezahlte seine Rechnungen nicht mehr, ging nicht mehr zur Arbeit. „Er hat den Mut verloren, alles wurde sinnlos.“ Aber schließlich fand er den Mut zur Veränderung, durch die vorsichtigen Gespräche. Er fragte Swetlana Berg nach Wohnberatung – und kam als stolzer Mieter einer Wohnung zu Besuch in die Bahnhofsmission. Nach einem halben Jahr berichtete er über seinen neuen Arbeitsvertrag. Und „dann schob er irgendwann eine Dame mit Rollstuhl zu uns herein und sagte: Hier stelle ich euch meine Freundin vor.“
Ansprechbar für Hilfe bei „egal was“
Gegen 13 Uhr schließt Hassan Abukassem schließlich das Gebäude neben dem Bahnhofsmanagement. Seit einer Stunde waren keine Gäste mehr da, „das ist jeden Tag anders“. Zusammen mit den anderen beiden ehrenamtlich Helfenden, Christine Waßmann und Horst Himmert, dreht er dann eine Runde durch den Bahnhof. Sie halten Ausschau nach Menschen, die Hilfe brauchen könnten – beim Treppensteigen, bei der Orientierung, bei „egal was“.
„Wir wollen so auch zeigen, dass es hier in Dortmund eine Bahnhofsmission gibt und dass wir ansprechbar sind.“ In der Bahnhofsmitte bleiben die drei stehen und warten. „Ich brauche Wasser, macht ihr gleich wieder auf?“, fragt ein Mann in zerschlissener Kleidung. „In zehn Minuten“, verspricht Himmert.
Nach 14 Uhr kommen andere Ehrenamtliche – um wieder aufs Neue zu fragen: „Womit kann ich Ihnen helfen?“