Artikel teilen

Schmelzendes Eis und singendes Licht

Es tropft, unaufhörlich. Unter dem zentralen Gewölbe der gotischen Liebfrauenkirche in der Bremer Innenstadt hängt eine Pyramide aus Eis, mit der Spitze nach unten, so klar wie ein Bergkristall. 330 Kilogramm, die sich langsam auflösen. Doch nichts geht verloren: Ein paar Meter weiter unten steht eine große Metallschale, die jeden Tropfen auffängt. „Eternity“ heißt die Kunstaktion, Ewigkeit. Ausgedacht hat sie sich die Münchner Künstlerin Birthe Blauth, die 2022 auch auf der Documenta in Kassel vertreten war.

Eine Möglichkeit der Interpretation: Die Künstlerin konfrontiert auf direkte Weise mit den Folgen des Klimawandels. Sichtbar und hörbar ist das Schmelzen des Eises zu erleben. Grundsätzlich geht es um Verwandlung, um die Mystik vom Werden und Vergehen. Wobei Birthe Blauth den Besuchenden in der Kirche nichts vorgeben will. „Die Bedeutung ist immer sehr vielschichtig. Jeder kann seine Deutung herauslesen und weitere entdecken“, bekräftigt sie.

Rund um die Wasserschale stehen Kirchenbänke und laden ein, das von mehreren Scheinwerfern angestrahlte Schauspiel in Ruhe zu verfolgen. Decken liegen bereit, um sich zu wärmen, denn in der Kirche ist derzeit die Heizung ausgeschaltet, um das Schmelzen nicht noch zusätzlich anzutreiben. Mit dem Aschermittwoch, in diesem Jahr gleichzeitig Valentinstag, hat die Kunstaktion begonnen. Solange das Eis schmilzt, kann sie rund um die Uhr besucht werden. „Nachts ist es magisch“, verspricht Blauth.

Wie lange es dauert, bis das Eis geschmolzen ist? Blauth weiß es nicht. Auch die Eisdesigner aus Ismaning bei München, die das Objekt in einer Metallform hergestellt haben, wissen keine Antwort. Liebfrauen-Pastor Stephan Kreutz findet, dass das zu der Arbeit passt: „Weil wir von so vielen Dingen nicht wissen, wie lange es sie noch gibt.“

Doch damit die Installation überhaupt umgesetzt werden konnte, waren umfangreiche Vorbereitungen nötig, die mehrere Monate in Anspruch genommen haben. So musste das Eis destilliert und beim Frosten ständig bewegt werden, damit es glasklar wird. „Die Temperatur durfte auch nicht unter minus 8 Grad Celsius absinken“, ergänzt Blauth.

Und dann: Wie hängt man die Pyramide auf? Stahlseile waren keine Option, weil sie wärmeleitend sind und möglicherweise schnell dazu geführt hätten, dass die Pyramide zu Boden stürzt. So kam Blauth auf ein Netz und Seilen aus Dyneema, einer hochfesten synthetischen Faser, dabei leicht und flexibel.

So befestigt wird die Pyramide angehoben, über vier Seilwinden, die auf dem Dachboden der Kirche stehen. Langsam und synchron, damit das Objekt nicht ins unkontrollierte Schaukeln gerät und womöglich sogar abstürzt. Exakt ausgerichtet auf die umstehenden Pfeiler hängt sie schließlich im Kirchenraum, fast wie ein gewaltiger Diamant, der in den Dialog tritt mit den umliegenden berühmten Kirchenfenstern des französischen Glaskünstlers Alfred Manessier.

Wenn die Sonne durch die Fenster scheint, entstehen überall bunte Tupfen in allen Regenbogenfarben, die auf rotem Backstein leuchten, manchmal, durch die Glasbrechung, auch tanzen. „Licht, das singt“, sagen Freunde der Kirche. Pastor Kreutz freut sich auf das Zusammenspiel von Pyramide und Manessier-Fenstern: „Für mich sind die schillernden Lichtreflexe auf dem Eis ein Hoffnungszeichen wie der biblische Regenbogen. Ein Symbol dafür, dass ein Leben in Frieden mit der Schöpfung und in gerechten und demokratischen Strukturen für alle Menschen möglich ist.“

„Die Pyramide wird sich ständig verändern, da das Eis beim Schmelzprozess das Licht immer anders durchlassen oder farbig reflektieren wird“, schaut Blauth voraus. Hinzu komme der Klang der fallenden Wassertropfen, die aufgrund der hervorragenden Akustik in der Kirche weithin zu hören seien. „Das Eis wird weniger, der Klang mehr. Am Ende ist alles noch da, nur dann als Wasser in der Schale.“ Das kann schnell gehen. Die Künstlerin rät: „Rechtzeitig kommen.“