Rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft ist der elfte Roman von Bernhard Schlink im Handel. In “Das späte Leben” geht der Bestsellerautor ans Eingemachte: Wie verhält man sich, wenn man noch drei Monate zu leben hat?
Von “Bucket Lists” hält Martin gar nichts, und auch einen “Rasierbrief” mit Lebensweisheiten für seinen kleinen Sohn will er nicht hinterlassen. Dennoch steht der 76-Jährige nach seiner Krebsdiagnose vor der Frage: Was anfangen mit der verbleibenden Zeit? Wie gelingt es, seine Lieben loszulassen und versöhnt und in Würde zu sterben? Und was kommt hinterher?
Nach dem Bühnenstück “20. Juli” und dem Roman “Die Enkelin” von 2021 rund um NS-Zeit und Rechtsextremismus wendet sich Bernhard Schlink in “Das späte Leben” vom Politischen ins Persönliche. Dabei streift der Pfarrerssohn und frühere Rechtsprofessor Schlink (79) auch Themen wie Glaube und Kirche.
Die Hauptfigur Martin Brehm reagiert auf die Mitteilung des Arztes, seine Müdigkeit komme vom Bauchspeicheldrüsenkrebs, überraschend gefasst. Eine Behandlung kommt für ihn ebenso wenig infrage wie ein Suizid. Schmerzlich ist für ihn nur der Gedanke an seine deutlich jüngere Frau Ulla (43) und Sohn David (6). Überaus rational versucht der Protagonist – ebenso wie Schlink emeritierter Juraprofessor – seinem Tod “eine Gestalt” zu geben.
Durch Martins innere Monologe erhält das Lesepublikum Einblick in die mäandernden Gedanken der Hauptfigur. Doch bietet Martins “spätes Leben” auch äußere Überraschungen und Herausforderungen; unter anderem die Erkenntnis, dass seine Frau Ulla, “jung, schön, sicher”, etwas vor ihrem Mann geheim hält.
Wertvolle Zeit verbringt er mit Sohn David, der schnell erfasst, dass sein Vater “müdekrank” ist und sterben wird. “Dann bist du im Himmel?”, fragt er. Martin bejaht, vor allem, um den Jungen zu schonen: “Wenn ich sterbe und in den Himmel gehe, kommst du mit bis an die Tür, wir verabschieden uns, wie wir uns am Kindergarten verabschieden, und ich gehe rein, und wenn du viele, viele Jahre später auch reingehst, begrüße ich dich.”
Aber was bedeutete der Tod, und warum war er noch in der Kirche?, fragt sich Martin. Gott nennt er lieblos, weil er eine Welt erschaffen habe, sich aber nicht um sie kümmere. “Warum befreit er die Menschen nicht einfach von ihren Sünden, sondern lässt Jesus sterben und auferstehen?”, so die Hauptfigur. “Was bringt das Versprechen eines Gerichts am Ende der Welt, wenn wir doch Gerechtigkeit in der Welt brauchen, nicht an ihrem Ende?” Alles Themen, die viele Menschen heute beschäftigen dürften.
Die Religionen würdigt Martin als Sinnstifter: “Es lebt sich leichter (…), wenn wir den Maßstab von Gut und Böse nicht entwickeln und aushandeln müssen, sondern vorfinden.” Und: “Sie haben Poesie, Musik und Kunst hervorgebracht, in denen viel Schönheit steckt.”
Kritisch zeigt sich Martin gegenüber Predigten, in denen es nur noch um “Tagesaktualitäten und -banalitäten” geht. Ebenso widerstrebt ihm die Autorität, “die sich die Kirche bei Verlautbarungen zu Gesellschaft und Politik anmaßte” sowie “die Anbiederung an andere religiöse Traditionen, mit der die Kirche die Schönheit der eigenen verriet”. – Müßig darüber zu spekulieren, wie viel Bernhard Schlink in den Gedanken seiner Hauptfigur steckt.
Seinem Sohn empfiehlt Martin, so zu leben, als überdauere einen nichts. “Auf die Nachwelt, den Nachruhm zu achten, ist töricht.” Und je mehr ihm die Kräfte schwinden, desto klarer weiß er, dass er seiner Familie nicht wirklich etwas mitgeben kann: “Nur die Lebenden können den Lebenden geben. Die Toten müssen die Toten begraben”, konstatiert er in einem fast wörtlichen Jesus-Zitat aus dem Lukasevangelium. Doch anders als sein Vornamensvetter Martin Luther pflanzt er nicht einen Apfelbaum, sondern legt gemeinsam mit David einen Komposthaufen im Garten an, um den sich sein Sohn später kümmern soll – ein fast ironisch wirkendes Detail.