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Schein oder heilig?

Lore Knapps thematisiert in ihrem Buch „Formen des Kunstreligiösen“ die Konflikte und Verzweiflungen in Bezug auf den Glauben anhand der Werke von Peter Handke und Christoph Schlingensief

Wovon es nicht alles einen Gott gibt: „Der Gott der kleinen Dinge“,„Der Gott des Gemetzels“, man schwärmt von Stil-Ikonen, Kathedralen der Industriekultur und dem heiligen Rasen des Fußballs. Warum Anleihen aus dem Religiösen? Die Bindungen an Glaube und Kirche nehmen doch gesamtgesellschaftlich ab – oder haben deren Begriffe und Symbole immer noch Strahlkraft? Gibt es deren offensichtlich verkaufsfördernden Signal-Effekt in der kommerziellen Werbung auch im künstlerischen Bereich, in der Literatur und dem Theater?
Diese Frage untersucht die an der Universität Bielefeld lehrende Germanistin Lore Knapp in ihrem 2015 erschienenen äußerst lesenswerten Buch „Formen des Kunstreligiösen“ am Oeuvre des Schriftstellers Peter Handke und den Performances des 2010 verstorbenen Theater-Tausendsassas Christoph Schlingensief. Die Säkularisierung religiöser Inhalte ist im Künstlerischen vielschichtig und nicht so leicht als verwerflich abzutun wie im Kommerziellen.
Beide Künstler sind stark von ihrer katholischen Erziehung geprägt, selbst in ihrer späteren wütenden Abkehr und ständigen Widersprüchlichkeit. Handke schreibt: „Die Religion war mir seit Langem zuwider, und trotzdem verspürte ich auf einmal eine Sehnsucht, mich auf etwas beziehen zu können.“ Das führt bei Handke zwar zur Suche nach einem universellen Zusammenhang, aber verkehrt sich in ein trotziges: „Ich stampfe mir einen Gott aus der Leere.“ Dieser horror vacui (lateinisch: die Abneigung, das Leere anzunehmen; in der Kunst das Bedürfnis, die Leere auszufüllen, Anmerkung der Redaktion) ist nicht neu; man denkt an Schuberts Liedzeile „Will kein Gott auf Erden sein, sind wir selber Götter!“

Drei grundsätzliche
Unterscheidungen

Wenn Handke vom „Licht der Welt“ spricht, ist das für ihn nicht Jesus, sondern die Sprache. Sie ist für ihn nicht Mittel, sondern Ziel seiner Suche nach dem Zentrum. Er verliert sich mit seinem Sprachdenken in unzählige Verweise auf mystische Ding-Erlebnisse und verfehlt das Zen­trum oder umgeht es absichtlich. Luther hätte das warnend „Einkrümmung in sich selbst“ genannt.
Knapps Untersuchung der autorenspezifischen Formen des Kunstreligiösen geht von drei grundsätzlichen Unterscheidungen aus, erstens: Die Kunst ist Medium der Religion und führt zu religiösen Inhalten hin, im Christlichen also zur Botschaft Jesu. Zweitens: Die Kunst übernimmt die Funktion von Religion, das heißt ihre Wahrnehmung löst beim Empfänger ähnliche Wirkungen aus wie sonst religiöse Inhalte. Drittens: Die Kunst ist selbst Religion, das heißt ein Kunstwerk verkörpert für den Empfänger eine göttliche Botschaft.
Handke erhebt sein Schreiben zu seiner Privatreligion. Seine Texte sollen auf Leser wirken wie Religiöses. Knapp sieht bei aller objektiven Beschreibung die Gefahr, dass Handke alles dem ästhetischen Postulat unterordnet, auch menschliche Beziehungen und allgemeine Gesetze. Hier wird es, nicht nur für sie, fragwürdig angesichts der politischen Implikationen zum Beispiel von Handkes Serbien-Texten, die gegen die Urteile der internationalen Gerichtshöfe standen. In wissenschaftlicher Redlichkeit übergeht Lore Knapp die Kränkungen, die Gläubige bei manchen Textstellen Handkes empfinden könnten.
Noch krasser sind in der Hinsicht Schlingensiefs priesterliche Anmaßungen bis hin zur Erlöserrolle, auch wenn er sagt, es sei „Murks, wenn man durch eigene ästhetische Erfahrung einen Bezug zum Göttlichen“ herstellen wolle. Trotzdem lässt ihn die Auseinandersetzung mit Glauben und Kirche nicht los – aber sein Fluxus-Oratorium heißt „Eine Kirche der Angst“. Während bei ihm, wie auch bei Handke, nie recht klar wird, ob die Kunst selber zur Religion geworden ist oder nur die Funktion der Religion übernimmt, fügt Schlingensief in seinen Performances diesem Schillern noch das Element des Schockierenden und oft Gaudihaften hinzu.

Theater in der
Kirchenkulisse

Knapp berichtet von den miterlebten Aufführungen: In der Church of Fear (Kirche der Angst) nennt er sich „Leidensbeauftragter“ und verteilt T-Shirts mit dem Aufdruck „Ich will heilig werden.“ Die Zuschauer im Nachbau der Oberhausener Herz-Jesu-Kirche verhalten sich wie andächtige Gottesdienstbesucher und lauschen dem „5. Evangelium“ von Joseph Beuys sowie Schlingensiefs Texten. In der kreativen Antwort auf seine Krebsdiagnose „Unsterblichkeit kann töten. Sterben lernen“ übernimmt ein kreuztragender Schauspieler die Rolle von Schlingensief als Jesus-Double, gleich danach spielt er selber den verrückten Papst Mabuse. Das Theater in der Kirchenkulisse negiert Gott und wendet sich an die „Gemeinschaft der Nicht-Gläubigen“.
In der Presse häuften sich nach Ansprachen wie „Gott ist nicht gut. Aber tröstet euch, ich bin gut“ und den Prozessions-Happenings die Blasphemievorwürfe. Was ist davon zu halten, wenn sich Schlingensief verteidigte, die Prozession sei „ernsthaft religiös gemeint“? Vertritt er in diesem Hin und Her die Zweifel vieler Christen? Spiegelt das parodierende Nachspielen von Ritua­len, das Pervertieren von Liturgie und Glaubenssätzen den verbreiteten respektlosen Umgang mit Religion oder pusht er ihn?
In Schlingensiefs Oper „Mea Culpa“ werde die Kunst endgültig zur Religion, sagt Philosoph Boris Groys, da sie keine Religion außer sich mehr brauche. Aber Schlingensief spielt auch damit – Effekthascherei oder Selbstentblößung der inneren Zerrissenheit? Die Heiligenrolle ist bei Schlingensief immer eine Auseinandersetzung mit seiner Künstlerrolle.
Knapp nimmt die Konflikte und Verzweiflungen in Bezug auf den Glauben bei den zwei ausgewählten Künstlern anhand ihrer Werke in einen so wertfreien, offenen Blick, dass man sich beim Lesen traut, sich in Manchem darin wiederzuerkennen.