“Liberal zu sein ist so viel schwerer“, sagte einst der Rabbiner Leo Baeck. Denn stets müssten liberale Juden und Jüdinnen nach Gottes Willen im Alltagsgeschehen suchen. Der orthodoxe Jude dagegen fände die fertige Antwort im Schulchan Aruch, dem religionsgesetzlichen Kompendium: „Er weiß in jeder Stunde, was er tun soll.“
Wie Leo Baeck (1873–1956), der damals als bedeutendster Vertreter des liberalen Judentums galt, so schlägt auch das Herz des Berliner Rabbiners und Autors Walter Homolka für diese Strömung innerhalb der Glaubensgemeinschaft. In Greifswald zeigte der Professor für Jüdische Religionsphilosophie auf, wo die Unterschiede zwischen „liberalem“ und „orthodoxem“ Judentum liegen. Er folgte den geschichtlichen Spuren, die durchaus auch nach MV führen.

Für das liberale Judentum, so Homolka, sei der Offenbarungsprozess nicht abgeschlossen: „Er schreitet voran, so wie sich der Wille Gottes fortwährend entfaltet.“ Der Tora gebühre Aufmerksamkeit und Würdigung, sie besitze aber keine letzte Autorität. Während das Orthodoxe ‚festhält‘, sei das Liberale ‚auf der Suche‘, strebe danach, Liturgie und Glaubenslehre mit dem bürgerlichen Wertekanon der Zeit zu verbinden. So forderte der Vordenker Abraham Geiger schon 1837 die Gleichberechtigung der Frauen in religionspraktischen Dingen. Liberale Juden betonen Ethik und die individuelle Gewissensentscheidung über Ritual.
Streit über frühe Beerdigung
Die Ursprünge liberalen Judentums datiert Homolka ins 18. Jahrhundert zurück, dem Zeitgeist der jüdischen Aufklärung entsprungen. Ein Impuls kam aus Mecklenburg: „und zwar von der Jüdischen Gemeinde in Schwerin“. 1772 wandte diese sich an den Philosophen Moses Mendelssohn. Es war bis dahin Usus, jüdische Verstorbene möglichst noch am selben Tag zu beerdigen. Die Obrigkeit im Herzogtum Mecklenburg-Schwerin forderte aber eine Frist von mindestens drei Tagen, um die Beerdigung von Scheintoten zu vermeiden. Moses Mendelssohn plädierte für ein Überdenken des überkommenen jüdischen Brauchs und befürwortete eine vorübergehende ‚Beerdigung‘ über der Erde mit Friedhofswache, bis der tatsächliche Tod mit Sicherheit festgestellt werden konnte. Die Frage der frühen Beerdigung wurde für Jahrzehnte zum Prüfstein, der die Traditionalisten von den Modernisten trennte, erklärte Homolka. „Alle Bräuche sind unantastbar“ versus „auch Kriterien außerhalb der jüdischen Tradition sollten herangezogen werden, zum Beispiel neue medizinische Erkenntnisse“…
Mendelssohn setzte also erste rationalistische Reformen um. Er übersetzte die Tora, was das Judentum der christlichen Mehrheitsgesellschaft näherbrachte, sie „anschlussfähig machte“, wie Homolka einschätzt. Denn die jüdische Gemeinschaft wollte, „deutsch werden und jüdisch bleiben.“
Es war ein Schüler Mendelssohns, der am Rande des Harzes in Seesen das jüdische Schulwesen reformierte: Israel Jacobson (1768–1828). Um 1810 schuf er die erste Reformsynagoge der Welt. Gottesdienste wurden würdiger, Predigten, Gebete auf Deutsch statt Hebräisch gesprochen, die Orgel erklang. Sogar Gebete zur Rückkehr nach Israel wurden gestrichen. Jacobson kam damit auch in Berlin gut an. „Von Berlin aus kamen die liberalen Gottesdienste über Hamburg, Leipzig und Frankfurt am Main bis nach Nordamerika“, so Homolka. Sie entsprachen mehr den Bedürfnissen ‒ vor allem der jüngeren Generation.
Greifswalder Uni hatte ersten jüdischem Rektor
Vorpommerns jüdische Gemeinden setzten diese Neuerungen erst allmählich um. „Anders als in Mecklenburg-Schwerin, wo mit Samuel Holdheim (1806–1860) einer der radikalsten Reformer sieben Jahre lang Landesrabbiner war.“
In Greifswald kam es erst unter preußischer Herrschaft zur Ansiedlung jüdischer Familien, die zunächst zur Jüdischen Gemeinde Stralsund gehörten, wo es schon zur Schwedenzeit eine Gemeinde sogenannter „konzessionierter Juden“ gab. „So wie Greifswald hatte aber auch Stralsund in preußischer Zeit kein eigenes Rabbinat. Für Vorpommern sind später einige liberal ausgerichtete Bezirksrabbiner mit Sitz in Pasewalk bekannt, die jedoch nur kurze Zeit blieben.
Ganz anders sah es in Stettin aus, wo sich 1816 eine israelitische Gemeinde gegründet hatte und es von 1843 bis 1938 eine Reihe von neun liberal ausgerichteten Gemeinderabbinern gab.
Neue Synagoge Berlin wurde 1866 Symbol liberalen Judentums
Als „bemerkenswert!“ hebt Homolka hervor, dass an der Universität Greifswald prominente liberale Rabbiner promovierten, wie Jacob Fränkel und Joseph Lehmann. „Sie war auch die erste preußische Universität mit einem jüdischen Rektor“, sagte er: 1882 mit Jacob Friedrich Behrend.Die Neue Synagoge Berlin (1866) wurde zum Symbol des liberalen Judentums. Die weltweit erste Rabbinerin, Regina Jonas, wurde hier 1935 ordiniert. „Zum Vergleich: Elisabeth Haselhoff, die erste Pastorin der Evangelischen Kirche in Deutschland, wurde 1959 in Lübeck eingesegnet“, so Homolka.
Leopold Zunz und Abraham Geiger etablierten die „Wissenschaft des Judentums“ als akademische Disziplin. 1872 wurde die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin gegründet, „die erste zentrale Einrichtung des liberalen Judentums weltweit“. Sie hatte 730 Studierende, darunter in den 1920/30er Jahren auch eine Reihe von Frauen. Bis zur erzwungenen Schließung der Einrichtung – das war 1942.
Die Schoa. Leo Baeck überlebte das Konzentrationslager Theresienstadt und ging nach der Befreiung 1945 nach London. Die deutschen Juden waren in der Nachkriegszeit zur Minderheit unter den Überlebenden geworden, die zumeist osteuropäischer Herkunft waren; es fehlte an rabbinischer Betreuung, an Bildungsarbeit und an sozialem Miteinander. „Eine Ausnahme war und ist in Berlin.“
Mitgliederzahlen der jüdischen Gemeinde rückläufig
Ab 1989 zogen 222 000 russischsprachige Menschen jüdischer Herkunft nach Deutschland. Es herrscht Pluralismus: 21 Gemeinden zählt die ‚Union progressiver Juden in Deutschland‘ heute. In Potsdam entstand mit dem Abraham-Geiger-Kolleg und der School of Jewish Theology die erste Ausbildungsstätte für Rabbiner und Kantoren des liberalen Judentums in Kontinentaleuropa nach der Schoa. Seit 2006 gab es hier über fünfzig Absolventen und Absolventinnen. Einer davon: Landesrabbiner Yuriy Kadnykov in MV.