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Programm für ein neues Deutschland

Die Pläne waren hoch brisant. Im Sommer 1943 formulierte der Kreisauer Kreis Ideen für ein Deutschland nach Hitler. Manches davon findet sich im Grundgesetz, anderes hatte keine Chance auf Verwirklichung

© epd-bild / KEYSTONE

BONN – „Die Regierung des Deutschen Reiches sieht im Christentum die Grundlage für die sittliche und religiöse Erneuerung unseres Volkes, für die Überwindung von Hass und Lüge, für den Neuaufbau der europäischen Völkergemeinschaft.“ Mutige, fast beschwörende Worte, vor allem, wenn man den historischen Hintergrund bedenkt.
Die Wehrmacht war im Sommer 1943 in Russland, Afrika und Italien auf dem Rückzug. Goebbels hatte im Sportpalast zum totalen Krieg aufgerufen, die Vernichtung der Juden war in vollem Gang. Die deutsche Niederlage klar im Blick, die NS-Verbrechen im Bewusstsein, verabschiedete die Widerstandsgruppe „Kreisauer Kreis“ um Helmuth James Graf von Moltke und Peter Yorck von Wartenburg vor 75 Jahren ihre „Grundsätze für die Neuordnung“.

Grundsätze für eine Neuordnung des Landes

Das auf den 9. August 1943 datierte Papier war eine Art Regierungsprogramm für den Fall, dass das Nazi-Regime untergehen würde und Deutsche eine Chance erhielten, einen neuen Staat aufzubauen. In einem weiteren Dokument, der „Ersten Weisung an die Landesverweser“, ebenfalls vom 9. August 1943, wurden Maßnahmen festgelegt, die direkt nach dem Zusammenbruch des Regimes durchgeführt werden sollten.
Moltke und Yorck hatten schon seit 1940 ein Netz von Gegnern des NS-Regimes aus unterschiedlichen Lagern geknüpft. Eingebunden wurden Protestanten, Katholiken, Sozialisten, Gewerkschafter und Konservative, einige von ihnen in hohen Stellungen des Staates und der Wehrmacht. Ihr Mann habe großen Wert auf eine heterogene Zusammensetzung der Gruppe gelegt, erinnerte sich Freya von Moltke mit Blick auf die rund 20 NS-Gegner und ebenso viele Sympathisanten.
Der Kontakt zu den Kirchen entwickelte sich Ende 1941. Moltke streckte seine Fühler auch zum katholischen Berliner Bischof Konrad von Preysing aus, der sich öffentlich kritisch mit der Politik der Nationalsozialisten auseinandergesetzt hatte. Auch der JesuitAlfred Delp wurde einbezogen.
Man traf sich – aus Furcht vor Verfolgung durch die Gestapo – zunächst in kleinen Gruppen im Reihenhaus der Yorcks in Berlin. In den Jahren 1942/43 gab es drei größere Zusammenkünfte auf Gut Kreisau in Niederschlesien, das den Moltkes gehörte.
Wie konnte man aus den Deutschen verlässliche Demokratinnen und Demokraten machen? So lautete ein Thema dieser geheimen Denkfabrik. Diskutiert wurde auch, wie das Reich künftig gegliedert und wie Wirtschaft, Arbeit, Schulen und Hochschulen organisiert werden sollten. Es ging um die Bestrafung der Kriegsverbrecher, die Stellung Deutschlands im künftigen Europa und die Menschenrechte. Die Rolle des Christentums für Kultur, Bildung und Erziehung war für die Kreisauer unbestritten.
Historiker streiten, welchen Einfluss diese Vorstellungen auf das spätere Grundgesetz hatten. Dass Deutschland wieder ein Rechtsstaat werden müsse, der Glaubens- und Gewissensfreiheit gewährleiste und die „unverletzliche Würde der menschlichen Person“ anerkenne, findet sich in den Grundsätzen zur Neuordnung ebenso wie in der Verfassung der Bundesrepublik.
Die von den Kreisauern geforderten sozialen Grundrechte wie das „Recht auf Arbeit und Eigentum“ und die „Mitverantwortung eines jeden an dem Betrieb“ haben im Grundgesetz nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Formen der Mitbestimmung der Arbeitnehmer sind erst später entwickelt worden.

Elemente der sozialen Marktwirtschaft

Wesentliche Elemente der „sozialen Marktwirtschaft“ dachten die Kreisauer vor. Völlig ohne Chancen blieben in der Nachkriegszeit aber die Konzepte für die staatliche Ordnung. Die Kreisauer wollten den Staat „von unten“ auf Basis überschaubarer Selbstverwaltungseinheiten aufbauen. Diese Vorstellung  hätte eine radikale Abkehr vom Obrigkeitsstaat bedeutet.
Im Januar 1944 wurde Helmuth James Graf Moltke von der Gestapo verhaftet, da er einen Freund vor der Verhaftung gewarnt hatte. Die Festnahme hatte keinen Bezug zum Kreisauer Kreis. Trotzdem löste die Gruppe sich nach der Verhaftung de facto auf. Die meisten „Kreisauer“ lehnten Gewalt gegen die NS-Führung ab, doch beteiligten sich einige schließlich doch an den Planungen eines Attentats auf Hitler, das schließlich am 20. Juli 1944 verübt wurde.
Von den Kreisauern zahlten unter anderem Moltke, Peter Yorck von Wartenburg, Alfred Delp sowie der Gewerkschafter Julius Leber mit ihrem Leben.