Allen Krisen des Buches zum Trotz: Deutschland hat auch 2017 noch den zweitgrößten Buchmarkt der Welt, und im 500. Jahr des Reformationsjubiläums gibt es hier noch immer eine Lesekultur, die ihresgleichen sucht. Zwölf Bücher erwarb jeder Deutsche im Schnitt im vergangenen Jahr laut Börsenverein des Deutschen Buchhandels. Dabei ist es Theologen und Kulturforschern zufolge kein Zufall, dass das Leseland zugleich dasjenige der Reformation ist.
Als eine der „großen kulturellen Errungenschaften des Protestantismus“ bezeichnet es der Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Johann Hinrich Claussen, das „Lesen fast zu einer religiösen Tätigkeit“ gemacht zu haben. Aus lutherischer Sicht gehört dies zum Glaubensleben dazu wie der Kirchengang: Dass ein Mensch sich selber bildet, indem er sich zurückzieht, ein Buch liest, den Text auf sich wirken lässt und ihn laut Claussen „in sich hineinbildet“. Dieses Bildungsverständnis hat die Deutschen seiner Meinung nach stark und letztlich konfessionsübergreifend geprägt.
Nicht möglichst viel, sondern das Richtige lesen
Martin Luther hatte die Alphabetisierung vorangetrieben, um den Gläubigen das Lesen der Bibel zu ermöglichen. Durch die Lektüre sollten sie sich – unabhängig von kirchlichen Autoritäten – selbst ein Bild vom gnädigen Gott machen. Die Bibel sei alles, was ein frommer Christ brauche, schrieb der Wittenberger Theologieprofessor. So bedürfe die Seele „auch keines anderen Dinges mehr, sondern sie hat in dem Wort Genüge, Speise, Freude, Frieden, Licht, Kunst, Gerechtigkeit, Wahrheit, Weisheit, Freiheit und alles Gut überschwänglich“.
Der Reformator las selber begeistert im „Buch der Bücher“. Er las immer wieder, hatte geradezu ekstatische Leseerlebnisse. Ihm ging es vor allem darum, nicht möglichst viel, sondern das Richtige zu lesen. Das aber mit großer Intensität.
Eine Bücherflut beklagte er schon damals, als der Buchdruck – nicht zuletzt wegen der aufrüttelnden theologischen Dispute der Zeit – einen ungeheueren Aufschwung nahm. In seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“ appellierte Luther 1520 an die Obrigkeit, die Schulbildung für das Volk voranzubringen, aber auch auf die Qualität der Bücher zu achten: „Die Bücher müsste man auch vermindern und erlesen die besten; denn viele Bücher machen nicht gelehrt, viel lesen auch nicht, sondern gut Ding und oft lesen.“
Für die religiöse Praxis der Gemeinde ergab sich aus Luthers enormer Wertschätzung des Lesens die „wiederholte, stetig vertiefende Bibellektüre“, schlussfolgert Christine Eichel in ihrem Buch „Deutschland, Lutherland“ (2015). So entwickelte sich im deutschen Protestantismus eine lebendige Lese- und Debattenkultur.
Zunächst erschienen Bibeln, Gebetbücher und Erbauungsliteratur, die in Schulen und Hauskreisen gelesen wurden. Im 18. Jahrhundert rief dann die Entstehung des weltlichen Romans zugleich die Kritik auf den Plan: Theologen, für die Lesen und Glauben eng verbunden war, betrachteten die neue Unterhaltungsliteratur und die mit ihr verbundene „Lesesucht“ mit Sorge. Gut lutherisch plädierte der Dichter Karl Phillip Moritz (1756-1793) für einen „Kanon guter Bücher“ und dafür, diese immer wieder zu lesen.