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Niedersachsens Diakonie-Chef fordert starken Sozialstaat

Vor der neuen Regierung stehen große Herausforderungen. Niedersachsens Diakonie-Chef Hans-Joachim Lenke macht sich vor allem Sorgen um die Pflege.

Niedersachsens Diakoniechef Hans-Joachim Lenke drängt auf eine grundlegende Reform der Pflegeversicherung
Niedersachsens Diakoniechef Hans-Joachim Lenke drängt auf eine grundlegende Reform der PflegeversicherungJens Schulze

Herr Lenke, vor uns stehen jetzt Verhandlungen zur Bildung einer neuen Regierung. Was gibt es da zu beachten?
Hans-Joachim Lenke: Es muss gelingen, die Gräben zu schließen. Wir brauchen jetzt den Blick auf das Verbindende und ein hohes Maß an Verantwortungsbewusstsein von den beiden demokratischen Parteien, die für die Regierung infrage kommen.

Denn die Probleme in unserem Land sind gewaltig. Wir sehen uns mit steigenden Kosten für Verteidigung konfrontiert, und das in einer Situation, in der die Wirtschaft zum dritten Mal in Folge nicht wächst. Wir brauchen mehr Wirtschaftswachstum. Und ich glaube auch, dass wir eine intelligente Weiterentwicklung der Schuldenbremse brauchen.

Könnte dies noch vor der Auflösung des alten Bundestages geschehen?
Das glaube ich nicht, auch wenn es gut wäre. Denn es gibt bekanntlich viele Herausforderungen neben der Stärkung der Verteidigungsbereitschaft. Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten stärker von der Substanz gelebt, als vielen bewusst ist. Es gibt also viel nachzuholen. Deswegen ist zu befürchten, dass das finanzielle Korsett so eng wird, dass man vieles objektiv Notwendige künftig nicht mehr machen kann. Wir werden die benötigten Summen jedenfalls nicht aus dem Haushalt herausschneiden können, ohne dessen Gesamtgefüge ins Wanken zu bringen. Und der Weg, immer wieder eine Notlage zu erklären, den halte ich für hochriskant.

Sie fordern einen starken Sozialstaat, was verstehen Sie darunter?
Das ist ein Staat, der die elementaren Lebensrisiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Pflegebedürftigkeit auffängt. Niemand soll ins Bodenlose fallen.

Außerdem soll der Staat imstande sein, einen Ausgleich bei den unterschiedlichen Bedingungen zu schaffen, mit denen junge Menschen ins Leben starten. Es lohnt sich, junge Menschen früh zu fördern. Ein starker Sozialstaat muss auch das leisten.

Welche Themen sind Ihnen im Wahlkampf zu kurz gekommen?
Ich habe mich gewundert, dass das Thema Pflege kaum eine Rolle gespielt hat, obwohl es doch so wichtig ist. Auch die Krankenhausversorgung, die haus- und fachärztliche Grundversorgung sind drängende Probleme, die den Menschen sehr nahekommen. Aber sie haben im Wahlkampf ebenfalls kaum eine Rolle gespielt.

Was ist da schiefgelaufen?
Im Wahlkampf wurden Menschen verächtlich gemacht und gegeneinander ausgespielt. Es wurde viel über irreguläre Migration gesprochen, so als wäre das unser vordringlichstes Thema. Aber das ist es nicht. Leider hat die AfD daraus Kapital schlagen können. Ihr ist es gelungen, sich als Kümmerer und Anwalt der kleinen Leute darzustellen, obwohl es sich nicht in ihrer Politik widerspiegelt.

Wie bewerten Sie den Ausgang der Wahl, vor allem den hohen Stimmenzuwachs der AfD?
Das ist ein verstörendes Ergebnis und eine massive Infragestellung der politischen Kultur unseres Landes. Gerade der Stimmenzuwachs der AfD bereitet mir große Sorge.

Wenn so getan wird, als könne der Sozialstaat beschnitten werden oder ganz wegfallen, wäre das ein fataler Fehler. Ein starker Sozialstaat hat eine demokratiestabilisierende Funktion.

Wie steht es um den Sozialstaat? Was hören Sie von den Trägern sozialer Einrichtungen?
Wir haben gesehen, dass es einen verstärkten Zulauf zur Schuldnerberatung gibt. Dem können wir kaum nachkommen. Dazu fehlt das Geld. Wir haben auch Probleme im Bereich der Pflege, weil es an Fachkräften fehlt und dadurch die Auslastung der Einrichtungen sinkt. In der Folge haben die Einrichtungen Finanzierungsprobleme. Krankenhäuser sind nahezu alle in einer Schieflage. Mehrere Häuser sind in einer Insolvenz.

Insgesamt fürchte ich, dass sich Träger mit ihren Angeboten aus der Fläche zurückziehen und das soziale Netz in manchen Gegenden löchriger werden könnte. Es wird schwieriger, alle wichtigen sozialen Angebote zu erhalten. Das bedeutet, dass Menschen nicht mehr so gut versorgt werden, wie man es sich wünscht.

Ich glaube, wir brauchen ein Bekenntnis der Parteien der Mitte, dass der Sozialstaat erhalten bleibt.

Welche Empfehlungen würden Sie der neuen Regierung auf den Weg geben?
Ich würde zuerst eine Reform der Pflegeversicherung anstreben. Ein Baustein wäre die Zusammenfassung von gesetzlichen und privaten Versicherungen. Zur Finanzierung sollten neben den klassischen Arbeitseinkommen auch andere Einkommensarten wie Kapitalerträge und Mieteinnahmen in die Beitragsberechnung einbezogen werden. Konzepte dazu liegen auf dem Tisch.

Aber noch wichtiger wäre, dass die neue Pflegeversicherung den größten Teil der Kosten übernimmt. Bisher zahlt sie nur einen Teil. Dadurch entsteht ein hohes Armutsrisiko für die zu Pflegenden und deren Angehörige.

Ich würde der neuen Regierung außerdem raten, mehr in Bildung zu investieren. Wir haben jedes Jahr rund 40.000 junge Menschen ohne Schulabschluss in Deutschland. Das ist im Grunde der erste Schritt in den Leistungsbezug. Außerdem steigt die Zahl der bildungsfernen Familien und Kinder. Schuld daran ist unser Schulsystem, das häufig auf Unterstützung seitens der Eltern setzt. Wenn da niemand ist, der sich um die Kinder kümmert, dann klappt das nicht. Kinder machen dann immer wieder die Erfahrung des Scheiterns. Ich bin deshalb ein großer Freund der Ganztagsschule.

Was wäre für Niedersachsen wichtig?
Ich glaube, wir brauchen einen vernünftigen Blick auf das Thema Migration. Im Moment sehen wir nur Täter und Menschen, die zu Schaden kommen. Man verunglimpft damit alle Migranten. Dabei sind wir auf eine erhebliche Zuwanderung in den Arbeitsmarkt von 350.000 bis 400.000 Menschen pro Jahr angewiesen.

Dass Integration gelingen kann, zeigt die große Community von Menschen aus Italien in Wolfsburg, wo ich lange gelebt habe. Sie kamen als sogenannte Gastarbeiter. Heute sind sie nicht mehr wegzudenken. Dazu brauchte es Unterstützung, einen langen Atem und eine Willkommenskultur. Aber nach dieser Wahl habe ich Zweifel, ob uns das gelingt.

Wie sehen Sie die Zukunft des Sozialstaats?
Es wird sicher schwierige Diskussionen geben, was man sich leisten kann. Ich hoffe, dass die Wirtschaft anspringt und sich so die Spielräume erhöhen. Und ich hoffe, dass alle politisch Verantwortlichen wissen, dass ein finanziell vernünftig ausgestatteter Sozialstaat wichtig ist, um die Demokratie zu erhalten und zu stärken.