Mit 103 ist Margot Friedländer, Berliner Ehrenbürgerin und langjährige Freundin der Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa, verstorben. Zehn Jahre lang durften wir in ihrem Namen an Schulen in ganz Deutschland den Margot-Friedländer-Preis verleihen. In den letzten Jahren war noch ein Sonderpreis, benannt nach ihrem geliebten, in Ausschwitz ermordeten Bruder, Ralph Bendheim hinzugekommen. Margot Friedländer war ein lebender Beweis für die Behauptung, dass man in jedem Alter einen Neuanfang wagen kann. Ihr persönlicher Neuanfang begann im Alter von 88 Jahren, er hatte eine kleine Vorgeschichte. Sie lebte mit ihrem Mann Adolf Friedländer nach dem Zweiten Weltkrieg in New York. Ihr Mann, genauso wie sie in Berlin geboren, wollte trotz jährlicher Europa-Reisen nie wieder nach Deutschland und vor allen Dingen nicht nach Berlin, zu groß der Schmerz. Jahrelang gingen die Einladungen des Berliner Senats zum Besuch der
alten Heimat ins Leere, blieben unbeantwortet.
Deutscher Filmemacher fasziniert von Margot Friedländer
Adolf Friedländer, Geschäftsführer der jüdischen Fortbildungseinrichtung Y in der 92 Street in Manhattan, stirbt 1997. Margot, damals 76 Jahre alt, versucht soziale Kontakte aufrecht zu erhalten und belegt einen Kurs in der alten Arbeitsstätte ihres Mannes mit dem Titel „Write your memories“. Dort lernt der junge deutsche, in Amerika lebende Filmemacher, Thomas Halaczinsky, sie kennen. Er ist fasziniert von ihr und ihrem Charme, wie so viele später auch, und überredet sie, eine Einladung des Berliner Senats zum Besuch der alten Heimat anzunehmen.
Sie reisen im Jahre 2003 gemeinsam nach Berlin und es entsteht der großartige Film „Don’t Call It Heimweh“. Mit diesem werden später im Berliner Rathaus in Anwesenheit der Schauspielerin Iris Berben, die sich seit Jahren im Kampf gegen Antisemitismus engagiert, die jüdischen Filmtage eröffnet. Bei diesem ersten Besuch nach fast 60 Jahren in Berlin durfte ich im Namen des Senats die jüdische Besuchergruppe begrüßen. Auch ich verfalle den großen Augen und der Ausstrahlung der 81-Jährigen, es entsteht eine jahrelange Freundschaft, sonntägliche Anrufe mit der Ansage „hier spricht die Heimat“ folgen.
Margot Friedländer bekam zurück, was ihr gehörte
Ihre Autobiografie “Versuche, dein Leben zu machen” – die letzten Zeilen ihrer Mutter, bevor sie in Ausschwitz mit ihrem Sohn Ralf 1943 ermordet wird – erschien 2008 im Rowohlt Verlag. Margot Friedländer kommt nun immer häufiger nach Berlin und Deutschland. Sie liest aus ihrem Buch in Schulen, migrantischen Einrichtungen und ist begeistert von ihrer alten Heimatstadt. Ein nicht so ganz ernst gemeinter Anstoß meinerseits „Zieh doch zurück“ setzt Margot Friedländer tatsächlich 2010, nach einer digitalen Wohnungsrecherche aus New York, in die Tat um – mit sage und schreibe 88 Jahren. Zunächst für 6 Monate probeweise, dann dauerhaft.

Noch im gleichen Jahr gibt ihr der Berliner Innensenator Erhart Körting die ihr von den Nazis aberkannte deutsche Staatsbürgerschaft zurück. Zum Erstaunen der Zuhörerschaft bedankt sie sich nicht, sondern spricht die weisen Worte „Ich habe nur zurückbekommen, was mir gehört hat“. In allen öffentlichen Ansprachen, Interviews und Diskussionsrunden war ihr Umgang mit der deutschen Sprache erstaunlich, trotz fast 60 Jahren Aufenthalt in den USA und dem durch die Nationalsozialisten verursachten Mangel an schulischer und universitärer Ausbildung.
Sie war eine Menschenfängerin und besaß eine hohe Kommunikationsfähigkeit. Kein Empfang, keine Party, auf die ich Margot Friedländer anfangs mitnahm, ohne dass sie nicht am Ende eine Handvoll Visitenkarten mit nach Hause brachte. Die neuen Kontakte wurden von ihr gepflegt und der anfänglich kleine Bekannten- und Freundeskreis um sie herum wuchs und wuchs. Später, nach dem Ausscheiden aus der Politik, war sie es, die mich mit auf die Empfänge und Partys mitnahm, zu denen sie eingeladen war.
Margot Friedländer startet mit 88 Jahren noch einmal neu durch
Man kann in jedem Alter einen Neuanfang in seinem Leben wagen. Margot Friedländer hat uns bewiesen, dass dies wirklich möglich ist. In den 15 Jahren nach ihrem Umzug hat sie sich neu erfunden und es wirkt auf uns heute fast wie ein Wunder: die Holocaustüberlebende, Schneiderin und Reiseagentin aus New York startet ihr Leben noch einmal neu, oder man könnte auch sagen, sie startet so richtig durch. Sie nutzt ihre Chancen und Fähigkeiten, ihren bis zum Schluss erhaltenen fraulichen, fast jugendlichen Charme, ihr Lächeln, ihre Neugierde auf vor allem junge Menschen. Welche Karriere hätte diese Frau wohl gemacht, wenn es die Katastrophe des Nationalsozialismus nicht gegeben hätte?
Vom Bundesverdienstkreuz erster Klasse, dem Berliner Landesorden, der Ehrenbürgerwürde der Stadt, bis hin zum Bambi und dem Sonderpreis des Westfälischen Friedens noch in diesem Jahr mit Frank-Walter Steinmeier als Laudator, bekam sie alle Preise verliehen, die unser Land zu vergeben hat. Die ehemalige Schneiderin, die gerne Designerin geworden wäre und immer elegant gekleidet war, darauf legte sie stets Wert, erscheint in der Juli/August Ausgabe der deutschen Vogue 2024 als Titel-Cover, die daraufhin sofort ausverkauft ist.
Sie folgte stets ihrer sich selbst auferlegten Mission, Zeugnis abzulegen von dem, was für uns Nachgeborene fast unvorstellbar ist und hat trotzdem die letzten 15 Lebensjahre in vollen Zügen genossen – laut eigener Aussage die schönsten ihres Lebens. Wer sie in ihren Lesungen und Vorträgen insbesondere mit jungen Menschen erlebt hat, war fasziniert von der Wirkung, die sie auf die Generation der Enkel und Urenkel hatte. Solche Veranstaltungen wurden ihr fast bis zum Schluss nicht zu viel, „diese Arbeit hat mir ein zweites Leben geschenkt“. Und den Zuhörern rief sie zu „ich tue es für euch“.
Ihr Vermächtnis weitertragen
Ihr ständig wiederholter Satz „Ihr sollt die Zeitzeugen sein, die wir nicht mehr lange sein können, es liegt in eurer Hand, dass das nie wieder geschieht, was gewesen ist“, ist ihr Vermächtnis an uns.
Ich hoffe sehr, wir können ihm gerecht werden. Die Schwarzkopf-Stiftung wird weiterhin mit aller Kraft gegen Antisemitismus und rechte Demokratiefeinde kämpfen. Margot Friedländer wird uns dabei immer ein großes Vorbild sein.