Mission bedeutet, von Gott beauftragt, benachteiligten Menschen eine Stimme zu geben, sagt der Direktor des Evangelisch-lutherischen Missionswerkes in Niedersachsen, Michael Thiel. Der Begriff habe sich gewandelt, ebenso wie die Arbeit eines der größten Missionswerke in Deutschland, erläutert er im Interview mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Thiel geht nach fast zehn Jahren an der Spitze des Werkes mit Sitz in Hermannsburg Ende September in den Ruhestand. Das Werk hat Kontakte mehr als 22 Kirchen weltweit.
epd: Herr Thiel, beim Begriff Mission denken auch heute noch viele daran, dass Christen aus dem Westen in südlichen Ländern ihren Glauben predigen und damit der Bevölkerung auch ihren eigenen Lebensstil aufdrücken wollen. Ist das zeitgemäß?
Michael Thiel: Die Missionsbewegung hat heute keine Himmelsrichtung mehr. Früher galt das Verständnis, der Glaube werde vom Norden nach Süden getragen. Heute redet man von „Mission from the Margins“. Kastenlose in Indien, Indigene, denen der Wald als ihre Lebensgrundlage genommen wird, Menschen, die in Armut leben, ihnen sollte nach diesem Verständnis zugehört und zu ihren Rechten verholfen werden, um Gottes Auftrag zu erfüllen.
Sie sagen uns aus ihrer Perspektive, wie sie das Evangelium verstehen und wo es uns herausfordert. Wichtig für die Entwicklung des Verständnisses der Mission ist der Wandel von der reinen Verkündigung der christlichen Botschaft zu einem ganzheitlichen Verständnis. So wie Jesus nicht nur gepredigt hat, sondern den Menschen auch zu essen gegeben und sie gesund gemacht hat, wollte man auch handeln. So wurden dann entwicklungspolitische Projekte ins Leben gerufen.
epd: Das Missionswerk in Hermannsburg entsendet also nicht mehr Missionare in alle Welt?
Thiel: Als ich vor knapp zehn Jahren hier angefangen habe, hatten wir in Südafrika noch sieben Mitarbeitende plus Familien. Heute haben wir keinen mehr dort. Damals hatten wir noch zehn bis 15 Mitarbeitende im Ausland, in Peru, Äthiopien, Sibirien. Heute haben wir nur noch eine Mitarbeiterin, die Professorin in Bangalore ist und schon seit Jahrzehnten in Indien arbeitet.
Aber wir bezahlen inzwischen über unsere Projektfinanzierung in unseren Partnerkirchen ungefähr 100 Menschen ganz oder teilweise, die aus den Ländern der jeweiligen Kirchen kommen. In den Kirchen, die in den fast 175 Jahren seit Gründung der Hermannsburger Mission entstanden sind, gibt es längst gut ausgebildete Kräfte. Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit in manchen der Länder suchen sie nach bezahlten Jobs. Als der Gründer Ludwig Harms 1848 mit der Mission angefangen hatte, gab es nur ganz wenige Christen unter der indigenen Bevölkerung in Afrika. Heute haben wir dort eigenständige und selbstbewusste Partnerkirchen.
epd: Was leitet denn das Missionswerk bei der Förderung von Projekten?
Thiel: Wir arbeiten immer mit Kirchen zusammen. Das ist unser Auftrag. Unsere Partnerkirchen beantragen Unterstützung für Projekte, die ihnen wichtig sind. Wir nehmen da keinen Einfluss. Unsere Partnerkirche in Malawi zum Beispiel hat ein ganz stark diakonisches Profil. Der amtierende Bischof hat die Herausforderung gesehen, als Aids ein großes Problem war. Viele Kinder wurden von ihren älteren Geschwistern oder den Großeltern aufgezogen, weil die mittlere Generation der Eltern gestorben war.
Die Kirche hat dann in über 100 Gemeinden Ernährungszentren für diese Kinder gegründet. Daraus ist an manchen Orten ein Riesenprogramm gewachsen, mit Ausbildungsinitiativen. Ziel ist es, dass die Menschen für sich eine Zukunft sehen und nicht aus Not in die Städte gehen, weil sie dort häufig stranden.
epd: Zu den heutigen Aufgaben zählen Sie „Advocacy“-Arbeit. Sie wollen als „Anwälte“ den Menschen aus den Partnerkirchen in Deutschland eine Stimme geben, wie denn das?
Thiel: Um ein Beispiel zu nennen: Wir hatten Besuch von einer kleinen Delegation aus Indien – zwei Christen und einem Muslim. Die waren auf der Suche nach Kontakten in die deutsche Regierung, weil Deutschland in dem Jahr für die UNO ein Gutachten abgeben musste zur Menschenrechtssituation in Indien. In Indien steht in der Verfassung Religionsfreiheit, aber in der Praxis sieht das anders aus. Dort regiert eine hindunationalistische Partei. Das bedeutet, dass insbesondere Muslime und Christen unter Druck sind. Unser Mitarbeiter hat Gespräche mit parlamentarischen Arbeitskreisen vermittelt, damit die Besucher das deutlich machen konnten.
Mit unseren Austauschprogrammen ermöglichen wir zudem Menschen intensive internationale Glaubensbegegnungen. Junge Menschen gehen als Freiwillige in unsere Partnerkirchen oder kommen von dort nach Deutschland. In unseren Bildungsangeboten oder Gottesdiensten berichten unsere Geschwister aus Ländern wie Äthiopien oder Brasilien aus erster Hand, wenn sie hier zu Gast sind oder auch per Video zugeschaltet. Es ist eindrücklich, auf diese Weise etwas über ihren Glauben zu erfahren und darüber, wie viel stärker sie zum Beispiel von der Klimakrise oder Flüchtlingsbewegungen betroffen sind als wir in Deutschland.
epd: Es gab in früheren Zeiten Kritik an der Mission, vor allem wenn diese mit der Kolonialisierung einherging. Haben die Hermannsburger etwas aufzuarbeiten?
Thiel: Wir waren mit anderen Missionswerken an einem Aufarbeitungsprozess in Südafrika beteiligt. Im Fokus stand dabei die Rolle der Mission in der Apartheid. Die Hermannsburger Mission war aber in keinem Land tätig, das deutsche Kolonie war. Nichtsdestotrotz waren auch die Hermannsburger Missionare Menschen ihrer Zeit. Eine Doktorarbeit schildert die Situation in Südafrika. Missionare dort haben Läden aufgemacht, Land bewirtschaftet oder auch Schulen gegründet, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Es wurde dann diskutiert, ob man den Schwarzen Englisch beibringen sollte. Manche waren dagegen, damit sie über ein bestimmtes Maß an Selbstbestimmung nicht hinauskommen. Heute würden man eine solche Haltung sicher als kolonialistisch bezeichnen. Zumindest ist es kein Umgang auf Augenhöhe.
Es gibt aber auch eine andere Seite. Wir hatten Besuch von einem Frauenchor der Aborigines aus Australien. Dort sind Hermannsburger Missionare nur eine kurze Zeit lang tätig gewesen. Die Frauen haben darauf verwiesen, dass ein Missionar damals die indigene Sprache dieser Gruppe erforscht und ein Wörterbuch und eine Grammatik geschrieben hat. Sie sagten, darüber seien sie noch heute dankbar. Wenn sie das nicht hätten, wäre mit der eigenen Sprache ein Teil ihrer Identität verloren gegangen. Durch den Kolonialismus sind Sprachen ausgestorben, weil in vielen Ländern Englisch oder Spanisch zur Amtssprache wurde.