Kriegerische Konflikte im Nahen Osten, in Afrika und auch in Europa prägen derzeit die außenpolitische Lage. Sigurd Rink ist seit einem Jahr Militärbischof der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Als Erster nimmt er diese Aufgabe im Hauptamt wahr, nicht im Ehrenamt wie seine Vorgänger. Im Gespräch mit Philipp Beng und Corinna Buschow sagt er, was sein erstes Amtsjahr geprägt hat, wie sich die Militärseelsorge an der Mission zur Rettung von Flüchtlingen beteiligt und warum er einen Einsatz gegen Schlepper für notwendig hält.
• Vor einem Jahr haben Sie Ihr Amt angetreten. Was hat Sie in diesem ersten Jahr besonders beschäftigt?
Die große Zahl der Standortbesuche und die Einführung von Militärpfarrerinnen und -pfarrern. Zu meiner großen Freude muss ich sagen: Wir haben eine gute Bewerberlage. Das Thema der Seelsorge in der Bundeswehr scheint viele wirklich gute Kollegen anzuziehen. Ich schätze mal grob, von den 100 Pfarrämtern, die wir im Inland haben, konnte ich jetzt schon 25 besuchen. Dazu kommen die Auslandseinsätze. Da hat es mit Afghanistan, dem Kosovo, Zypern und dem Unifil-Einsatz im Libanon schon einige Besuche gegeben. Das wird sich fortsetzen. Es sind bewegte Zeiten.
• Es war tatsächlich ein sehr bewegtes Jahr. Die Waffenlieferungen an die Kurden im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ (IS) sind da nur ein Stichwort. Wo war die evangelische Kirche inhaltlich besonders gefordert? Wo muss sie sich noch positionieren?
Wir merken an verschiedenen Punkten, dass die Diskussion doch erheblich weitergegangen ist und weitergehen muss. Es gibt eine völlig neue sicherheitspolitische Lage. Mit der Ukraine-Krise erleben wir einen ernsten territorialen Übergriff auf europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg. Dort sind nicht offiziell gekennzeichnete russische Truppen einmarschiert. Das ist ein Bruch des Völkerrechts und verändert die außen- und sicherheitspolitische Lage. Polen und die baltischen Staaten fühlen sich bedroht – nach dem Motto: Sind wir die nächsten?
Die andere Frage ist: Wie geht es mit dem sogenannten „Islamischen Staat“ weiter? Wir haben es da mit einer völlig neuen Art der Kriegsführung zu tun. Wie geht man damit überhaupt um? Was heißt das friedensethisch? Das Stichwort Islamismus wird auch die künftigen Jahre bewegen.
• Wie ist Ihre Haltung zur Situation in der Ukraine: Brauchen wir da Militäreinsätze?
Die militärische Option ist an dieser Stelle keine Option. Das ist sehr klug unterstrichen worden, sowohl vonseiten der Bundesregierung als auch von vielen leitenden Geistlichen der evangelischen Kirche. Die Vorstellung, dass man mit der Russischen Föderation irgendwie in kriegerische Handlungen tritt, ist völlig undenkbar. Es braucht ganz starke diplomatische Bemühungen. Die Vorstellung, da in irgendeiner Form militärisch zu reagieren oder zu intervenieren, ist im Grunde genommen absurd und obsolet.
• Und wie ist das im Gebiet des IS?
Auch an der Stelle sollte man versuchen, auf Verständigung und Dialog zu setzen. Doch hat man es dort mit Gesprächspartnern zu tun, die bereit sind für diplomatische Bemühungen? Es gibt dort angeblich im Herrschaftsbereich des IS, der sich jetzt aufbaut, auch ein gehöriges Maß an Leuten, die durchaus politische Erfahrung haben und die im Zweifelsfall ansprechbar sind, was Verständigungsbemühungen angeht. Mit dem, was dort geschieht, ist natürlich schwierig umzugehen: der krasse Bruch des Völkerrechts und der Völkermord.
• Kürzlich hat die Kommission zur Überprüfung der Parlamentsrechte bei Auslandseinsätzen ihr Gutachten vorgelegt. Noch ist umstritten, welchen Eingriff das für die Parlamentsarmee Bundeswehr bedeutet. Vielleicht muss das Parlament künftig nicht mehr bei jedem Einsatz befragt werden. Wie stehen Sie dazu?
Das hat pragmatische Gründe, die ich teils verstehen kann. Ich denke aber auch: Politik und insbesondere Politik in der Demokratie ist ein anstrengendes und zeitraubendes Geschäft. Aber im Zweifelsfall ist es besser, eine Schleife mehr zu drehen als eine zu wenig. Die Parlamentsarmee, deren Auslandseinsätze entsprechend durch den Bundestag beschlossen werden, ist für mich ein hohes Gut. Selbst wenn es auf den ersten Blick anstrengend und umständlich wirkt, würde ich nicht ohne Not davon abrücken.
• Inwieweit ist die evangelische Militärseelsorge an der Mittelmeermission, also der Rettung von Flüchtlingen, beteiligt?
Wir sind von vornherein beteiligt worden. Die großen Schiffe haben, wie sonst auch, jeweils einen Militärseelsorger an Bord. Es gibt eine klare Konzentration: Die Seelsorger kümmern sich um die Besatzungen. Diese wiederum helfen den Flüchtlingen und bringen sie sicher in die Häfen und Aufnahmelager in Italien. Die Flüchtlinge, oft ohne Sprachkenntnisse, sind manchmal nur für mehrere Stunden an Bord, so dass die eigentliche Betreuung in den Lagern stattfindet. Den ersten Berichten zufolge muss das an Bord eine sehr anstrengende Tätigkeit sein, für alle Beteiligten. Diese als Marineschiffe gebauten Boote sind nicht ausgelegt zur humanitären Flüchtlingsrettung. Der psychische und gesamtgesundheitliche Zustand der Menschen, die in Libyen aufgebrochen sind und irgendwann in ihren seeuntauglichen Booten aufgegriffen werden, ist sehr schwierig.
• Befinden die Seelsorger sich nicht im Zwiespalt, auch den Flüchtlingen Unterstützung anbieten zu wollen?
Zwiespalt würde ich nicht sagen. Ein Seelsorger an Bord kann sich nicht gleichzeitig noch um Hunderte Flüchtlinge kümmern. Mit der Hilfe für die Helfer haben die Seelsorger schon voll zu tun. Die Soldaten werden mit großem Leid konfrontiert. Unsere Leute sind da bis zu vier Monate unterwegs. Ein Pfarrer hat zu mir gesagt: Es ist wie ein Großschadensereignis, was dort geschieht. Nur mit dem Unterschied, dass die Katastrophe immer wieder von Neuem beginnt. Sie müssen sich vorstellen, dass diese Schlauchboote, die gerade so weit kommen, dass sie die libyschen Küstengewässer verlassen, teilweise von den Flüchtlingen zerstört werden. Sie denken, sie hätten dadurch bessere Chancen, gerettet zu werden. Was das für die Soldaten bedeutet, in diese akute Nothilfe reinzugehen, das ist in unserem Alltag kaum vorstellbar.
• Der Bundeswehreinsatz auf dem Mittelmeer ist schon ein Vorgriff auf die von der EU beschlossene verstärkte Seenotrettung. Die andere Seite der Medaille, die noch nicht beschlossen ist, ist der Einsatz gegen Schlepper und eventuell das Zerstören von Flüchtlingsbooten. Wie stehen Sie dazu?
Die Flüchtlingsrettung im Mittelmeer mit den Missionen „Triton“ und „Poseidon“ ist nur ein Segment im Umgang mit der Flüchtlingskrise. Die anderen Fragen sind: Wie sieht es mit der Betreuung aus? Wie können wir Entwicklungszusammenarbeit so gestalten, dass es gar nicht erst zur Flucht kommt? Und dann muss die internationale Gemeinschaft natürlich schauen, wie man diese kriminellen Schlepperbanden aufhält. Die setzen Menschen auf Schiffe, die überhaupt nicht seetauglich sind! Nicht auszumalen, was im Herbst geschieht, wenn es schlimme Stürme geben wird. Die Menschen werden im Zweifelsfall auch dann losgeschickt und ertrinken. Die internationale Gemeinschaft muss – nach Möglichkeit mit entsprechender Resolution der Vereinten Nationen – versuchen, diesen Kriminellen das Handwerk zu legen.
• Also mit einem Militäreinsatz?
Eher stelle ich mir Ordnungskräfte, also internationale Polizeikräfte, vor. Ein Militäreinsatz, wie wir das im Irak oder Afghanistan erlebt haben, ist da nicht angezeigt.