Neumünster. Mit kräftiger Stimme trägt Jan Matthiesen* sein Gedicht vor: „Meine vier Wände“ hat er geschrieben, als er erst eine Woche in U-Haft saß. Es ist eine Liebeserklärung an seine Verlobte. Sie war dabei, als Polizisten eines Morgens die Wohnung des Paares stürmten und ihn mitnahmen.
Matthiesen sitzt in der Justizvollzuganstalt (JVA) Neumünster wegen Drogenhandels. Alle zwei Wochen trifft er sich mit fünf anderen Gefangenen zu einer Schreibwerkstatt unter der Leitung des Hamburger Journalisten Peter Brandhorst. In ihren Texten verarbeiten die Häftlinge ihre Vergangenheit und den Knastalltag.
Der 45-jährige Andreas Hansen* schreibt besonders viel. An diesem Dienstagabend legt er Brandhorst einen sauber geschriebenen Text hin, mit einem bunten Stern in der Mitte. Er handelt von Weihnachten, Silvester und Geburtstagen. „Diese Tage sind ein rotes Tuch für mich. Ich bin froh, wenn das Jahr rum ist“, sagt Hansen. Er vermisse den Duft von Weihnachtsmärkten und seine Freiheit. Außerdem habe er an Feiertagen viel getrunken. „Ich bin nie nüchtern ins neue Jahr gekommen.“
Schreiben wird zum Ventil
Hansen kam am 21. Dezember 2020 in Haft wegen gefährlicher Körperverletzung. „Das Schreiben ist für mich ein Ventil, um mit mir ins Reine zu kommen.“ Vor der Haft konsumierte er viel Cannabis und Alkohol. Jetzt muss er ohne Rausch mit seinen Gefühlen fertig werden. Kürzlich lieh Hansen sich eine DVD aus. Er hatte sich auf den Film gefreut, aber die DVD war kaputt. „Nachdem ich mir den Ärger von der Seele geschrieben hatte, ging es mir besser.“
Peter Brandhorst ist Chefredakteur des Schleswig-Holsteinischen Straßenmagazins „Hempels“ und hat die Schreibwerkstatt 2019 in der JVA Neumünster gegründet. Seit 2011 bietet er sie bereits in der JVA Lübeck an. Eine Auswahl der Texte wird regelmäßig in „Hempels“ gedruckt, so auch in der aktuellen November-Ausgabe. 2015 wurde das Resozialisierungsprojekt mit dem Ingeborg-Drewitz-Preis für Gefangenenliteratur ausgezeichnet.
„Hinter jedem Gefangenen und seiner Straftat steht ein persönliches Schicksal“, sagt Brandhorst. Die Menschen hätten das Bedürfnis, über ihre Erlebnisse zu sprechen oder zu schreiben. Die Schreibwerkstatt zeige ihnen, wie sie ihre Gedanken nachvollziehbar zu Papier bringen. So können sich die Gefangenen mitteilen, sich mit dem Erlebten auseinandersetzen und Verhaltensweisen ändern.
Am Ende gibt’s Schreib-Aufgaben
Brandhorst macht keine Vorgaben zu Textgattung, Versmaß oder Vokabular. Ihm ist wichtig, dass die Texte ehrlich sind und sich um die Häftlinge selbst drehen. Er hört den Männern zu, lobt sie und gibt Tipps, wie sie auch nach einem harten Tag optimistisch bleiben. Emotionen und Empathie brauche man für diesen Job, so der Journalist. „Gleichzeitig muss man auch Distanz wahren.“ Am Ende der Sitzungen gibt er den Männern eine Schreib-Aufgabe auf. Das nächste Mal sollen sie Texte zum Thema Weihnachten mitbringen.
Hier könnten sie die Gitter mal vergessen und gute Gespräche führen, sagen die Häftlinge. Matthiesen hatte sich vor der Haft mit einem Handwerksbetrieb selbstständig gemacht, doch im Haftalltag fühlt er sich eher unbedeutend. „Bei Peter bekomme ich neben meiner Arbeit in der Tischlerei noch eine Aufgabe.“
Beeindruckt von Liebsschwüren
Das Feedback beflügelt zusätzlich. „Dein Gedicht ist richtig gut“, hört Matthiesen an diesem Abend von den anderen Teilnehmern. Auch seine Verlobte sei ganz „happy“ gewesen, sagt er. Vermutlich beeindruckten sie nicht nur die Liebesschwüre, sondern auch ein Vers fast am Ende des Gedichts: „Ich dank’ dir jeden Tags aufs Neue, versichere dir, dass ich das alles hier bereue.“ (epd)
*Name geändert