Eine Kriegsreporterin, die das Leid in Lagern selbst gesehen hat: Sophia Maier beschreibt Schicksale, die Europa offenbar vergessen möchte. Ihr Buch wirft auch die Frage auf, was von den Menschenrechten geblieben ist.
“Es ist reines Glück, dass ich in diesem Land geboren bin”, sagt Sophia Maier, Kriegsreporterin aus München. Die 38-Jährige weiß, wie gut es ihrer Heimat geht – und dass das keine Selbstverständlichkeit ist. Denn sie ist an Orte gereist, wo Menschen im Bombenhagel oder in Flüchtlingslagern ums Überleben kämpfen.
Nun hat Maier ein Buch über persönliche Begegnungen in diesen Krisenregionen verfasst, das am Montag erscheint. Begegnungen, durch die sichtbar werde, wie groß die Diskrepanz zwischen dem festgeschriebenen westlichen Ideal garantierter Menschenrechte einerseits sei – und dem menschenunwürdigen Elend andererseits, sagt die Autorin.
Es sind vor allem Kinder, die der studierten Politikwissenschaftlerin schmerzhaft im Gedächtnis geblieben sind. Kleine Jungen und Mädchen auf den griechischen Inseln Samos, Lesbos und Kos etwa, die die traumatische Flucht vor dem Krieg in Syrien, Afghanistan oder dem Irak überlebt haben und die nun in einem Auffanglager ausharren. Unter katastrophalen Verhältnissen, wie Maier schildert. Was als kurzfristige Übergangsstation gedacht sei, werde zur überfüllten Bleibe für viele Monate oder gar Jahre. Denn die Prüfung der Asylanträge sei weder gründlich noch gerecht und schon gar nicht schnell, so die Reporterin.
Immer wieder denkt Maier nach eigenen Worten an einen Jungen, der in einem dieser Hotspots bitterlich geweint habe – aus Angst vor den herumlaufenden Ratten, die mitunter auch Menschen annagten. “Wie kann es sein, dass ein Kind, das die gefährliche Flucht übers Meer überlebt hat, hungernd, ohne Bildung und ohne Hoffnung in solchem Elend dahinvegetieren muss?”, fragt die Journalistin.
Und sie erklärt, dass diese Erlebnisse ihren Glauben an ein Europa der Menschenrechte zutiefst erschüttert hätten. Denn hier zeige sich “ein Kontinent der kalten, erbarmungslosen Herzen”. “Es geht um eine bewusste, von den EU-Staaten gewollte Abschreckung – obwohl dies konträr zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und zur Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen steht”, schreibt Maier. Unverhandelbare Grundprinzipien würden in den griechischen Lagern verhandelbar; den Gestrandeten würden ihre Rechte und ihre Würde genommen.
Eine Begegnung im Jahr 2016 in Idomeni, einem Dorf an der griechisch-mazedonischen Grenze, zeige, wie liebevoll die Ausharrenden dort trotz allem mit Fremden umgingen, so die Reporterin. Aufgrund der geschlossenen Grenzen der EU saßen Tausende in dem überfüllten Zeltlager fest.
Maier ist mehrfach dorthin gereist, wollte ein Zeichen dafür setzen, dass das Leid der Menschen nicht vergessen wird. “Eines Tages kommt ein zierliches Mädchen auf mich zu, in ihren Händen hält sie etwas, das sie mir schüchtern überreicht: Aus herumliegendem Stacheldraht hat sie ein Herz geformt. Sie ist zu klein, zu unschuldig, um zu begreifen, warum ihr Präsent mir unmittelbar Tränen in die Augen treibt”, schreibt die Kriegsreporterin.
Maier will die grausame Realität der Menschen sichtbar machen, und zwar nicht in abstrakten Zahlen, sondern in Einzelschicksalen. Denn wer von einer “Flüchtlingswelle” spreche und nur die “Ankünfte” und “Abweisungen” als statistische Kennzahlen bekannt gebe, der vergesse, dass hinter jeder dieser Zahlen ein Individuum stehe – mit Hoffnungen, mit Ängsten, mit Bedürfnissen.
In Europa, wo die Migrationspolitik trotz verbrieftem Recht auf Asyl immer restriktiver und unmenschlicher werde, beobachtet die Journalistin zudem eine “unerträgliche Doppelmoral”: etwa, wenn von “illegalen Fluchtwegen” die Rede sei, obwohl die europäischen Staaten kaum noch legale Routen offenließen. Auch mache der Westen durch Waffenlieferungen und seinen überproportional hohen Beitrag zur Klimakrise anderen das Leben in der Heimat zusehends unmöglich. Die Bekämpfung von Fluchtursachen sei indes schon lange aus den Programmen der politischen Parteien verschwunden – still und leise, so Maier.
Bei allen logistischen, finanziellen und menschlichen Hürden, die Migration mit sich bringe, fordert die vielgereiste Autorin die Einhaltung der Menschenrechte und humanen Werte – im digitalen Raum, in der Debatte mit dem Gegenüber, im politischen Diskurs. Denn: “Wenn wir im Westen Zuschauer solcher Tragödien sind, tragen wir eine stille Mitverantwortung – nicht, weil wir aktiv Unrecht tun, sondern weil wir zu wenig dagegen tun.”