Philosophieren erfordert Disziplin. So sah es zumindest der Vordenker der Aufklärung, Immanuel Kant. Sein Tag begann stets um 4.45 Uhr und war streng durchgetaktet, bis er sich abends Punkt 22 Uhr mit einer ganz speziellen Wickeltechnik in seine Bettdecke hüllte. Die Ausstellung, mit der die Bundeskunsthalle ab Freitag das Kant-Jubiläumsjahr 2024 einläutet, präsentiert ihn nicht nur als großen Philosophen, sondern zeigt auch seine menschliche Seite. Wandhohe Zeichnungen im Stil einer Graphic Novel begleiten die gesamte Ausstellung und illustrieren die biografischen Stationen sowie die Eigenheiten Kants.
Die große Überblicksausstellung „Immanuel Kant und die offenen Fragen“, die bis zum 17. März zu sehen ist, wolle Kant auch einem jungen, nicht philosophisch vorgebildeten Publikum näherbringen, erklärt die Intendantin der Bundeskunsthalle, Eva Kraus. Denn: „Kant ist einer der am meisten zitierten und diskutierten Philosophen und seine Aktualität hat bis heute nichts eingebüßt.“
Kant wurde am 22. April 1724 in Königsberg (heute Kaliningrad) geboren, wo er auch lange Jahre an der Universität lehrte. Seine Aufforderung, sich von Vorschriften zu lösen und selbst Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen, prägte die Epoche der Aufklärung. Die Schau visualisiert Kants Wirken unter anderem anhand zahlreicher Porträts, Gemälde, Grafiken, Skulpturen, wissenschaftlicher Instrumente, Modelle, Karten und Handschriften. Zu sehen ist unter anderem eine Erstausgabe der „Kritik der reinen Vernunft“.
Besonders nahe kommt das Publikum dem Philosophen nicht nur durch die wandhohen Zeichnungen der Illustratorin Antje Herzog. Auch seine Wirkungsstätten im historischen Königsberg, das damals zu Ostpreußen gehörte, können besucht werden. Seine Heimatstadt, die Kant zeitlebens kaum verließ, wird durch eine Virtual-Reality-Rekonstruktion erlebbar gemacht. VR-Brillen ermöglichen eine Reise durch die im Zweiten Weltkrieg zerstörte Stadt zu Kants Zeiten. Die Rekonstruktion ist nach Angaben der Bundeskunsthalle weltweit eine der größten und datenreichsten Virtual-Reality-Produktionen.
Daneben kommen aber auch die Schriften des Philosophen nicht zu kurz. Neben den Original-Texten werden Postulate und Thesen anhand von Beispielen anschaulich erklärt. Einer der zentralen von Kant formulierten Begriffe ist etwa der Kategorische Imperativ, das oberste Moralgesetz: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“, heißt es bei Kant. Was Kant damit meint, wird am Beispiel der Lüge verdeutlicht: Wenn jeder zum eigenen Vorteil lügen würde, würde sich der Vorteil aufheben, da keiner mehr dem anderen trauen würde.
Die Schau sei nicht historisierend, sondern als Denkprozess angelegt, erklärt Kuratorin Agnieszka Lulińska. Das Publikum sei zum Mitdenken eingeladen. Deshalb gibt es auch sogenannte Mitdenkstationen, die philosophische Fragen veranschaulichen. „Wann bin ich frei?“, lautet etwa die Frage einer Station. Besucherinnen und Besucher können hier Kugeln über verschieden ausgestaltete abschüssige Bahnen rollen lassen. Die Laufbahn der Kugel unterscheidet sich, je nachdem, ob Hindernisse wie persönliche Prägungen oder Willkür den Weg bestimmen.
Die Ausstellung zeigt auch die Wirkung des Kant‘schen Denkens bis in die Gegenwart und die jüngere Geschichte. Zum einen tritt seine Philosophie in der Bundeskunsthalle in Dialog mit moderner und zeitgenössischer Kunst, darunter mit Werken von Joseph Beuys, Anselm Kiefer, Alberto Giacometti oder Peter Fischli & David Weiss.
Auch der Missbrauch seiner Philosophie wird thematisiert. Zu hören ist etwa ein Interview mit der jüdischen deutsch-US-amerikanischen Theoretikerin Hannah Arendt. Sie berichtete 1961 über den Prozess gegen Adolf Eichmann. Dass der SS-Mann, der für die Ermordung von Millionen von Juden verantwortlich war, sich auf Kant und dessen Pflichtbegriff berief, empörte Arendt zutiefst: „Das ist eine Unverschämtheit.“