Sanftes Wellenrauschen und brausende Wogen. Stilles Dahingleiten und Sprünge in die gischtende Brandung. Glitzerndes Azurblau und purpurne Sonnenuntergänge – aber auch Stürme und vernichtende Fluten. In unserer Sommerserie geht es diesmal um das Meer in der Bibel.
Für viele ist das Meer der Inbegriff von Urlaub, Weite, Freiheit – ja, für manche sogar eine Vorahnung des Paradieses. Diese Menschen müssen jetzt jedoch ganz stark sein: Am Ende aller Zeiten, wenn für Lebende wie für Tote die Ewigkeit anbricht, ist Schluss mit dem Meer: „Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr“, heißt es in der Offenbarung des Johannes (21,1).
Wie merkwürdig! Das Meer, das fast 71 Prozent der Erdoberfläche bedeckt, soll in Gottes neuer Schöpfung einfach wegfallen. Eine Welt ohne schier endlose Wasserflächen, ohne das Rauschen der Brandung und den immer gleichen Rhythmus der Wellen? Kaum denkbar – aber für die Menschen des 1. Jahrhunderts nach Christus im östlichen Mittelmeerraum offenbar eine paradiesische Vorstellung.
Erklären lässt sich dieser Vorbehalt gegenüber der scheinbar endlosen Wasserfläche mit dem altorientalischen Weltbild, das auch die Erzählungen der Bibel mitbestimmt. Darin wurde das Meer als chaotischer, lebensfeindlicher Bereich angesehen. Das Urwasser, das noch vor der Schöpfung da war, musste von Gott erst gebändigt werden, bevor Leben entstehen konnte (1. Mose 1,1.6-7, Psalm 104). Auch die drei mythischen Meeresungeheuer, der krokodilähnliche Leviatan (Psalm 104,26; Hiob 40-41), die Chaosschlange Tannin (Psalm 74,13) und das Ungeheuer Rahab (Jesaja 51,9), werden von Gott besiegt.
Trotzdem blieb das Meer unberechenbar und bedrohte die bewohnten, vom Menschen kultivierten Gegenden. Die unergründlichen Wassermassen galten als feindliche Macht, die mit der Gewalttätigkeit, dem „Wüten“ fremder Heere verglichen wird (Jesaja 5,30; Hesekiel 26,3). Wer sich mit dem Schiff hinauswagte, musste ständig mit dem Tod rechnen (Psalm 107,23-29), und die Vorstellung, im Meer zu versinken, war gleichbedeutend mit dem Abstieg ins Totenreich, an einen Ort ohne Wiederkehr (Jona 2,6f.; Hesekiel 26,19f). Auch die Geschichte von der Sintflut zeigt, wie vernichtend die Gewalt des Wassers sein kann. Und das „Tier“ aus dem Meer, das laut der Johannes-Offenbarung in den Kämpfen der Endzeit die Menschen verführt, wird erst am Jüngsten Tag endgültig entmachtet. Die Menschen unserer Tage, die auf zerbrechlichen Schlauchbooten übers Meer flüchten, würden ihre Ängste vielleicht mit ähnlichen Bildern beschreiben.
Aber so feindlich und bedrohlich das Meer auch sein mag – letztlich ist es Gott unterworfen, der sogar die gewaltige Energie des Wassers beherrscht, wie Psalm 93 eindrücklich beschreibt: „HERR, die Wasserströme erheben sich, die Wasserströme erheben ihr Brausen, die Wasserströme heben empor die Wellen; die Wasserwogen im Meer sind groß und brausen mächtig; der HERR aber ist noch größer in der Höhe.“ (Psalm 93,3f.) Die Meeresungeheuer sind seine Schöpfung und sein Spielzeug (Psalm 104,26).
Bei Bedarf kann er mitten durchs Meer einen Weg freimachen, über den sein Volk aus Ägypten flieht, während sich die Wassermassen anschließend nach seinem Willen über dem Heer der Verfolger schließen und es vernichten (2. Mose 14). Die Sünden der Menschen wirft er in die Tiefen des Meeres, wo sie keine Macht mehr haben (Micha 7,18). Und schließlich gibt es keinen Ort, und sei er noch so weit vom festen, bewohnten Land entfernt „am äußersten Meer“, an dem Gott nicht ist (Psalm 139,9).
Deutlich positiver als das unbekannte, bedrohliche Meer werden im Alten Testament übrigens Quellen, Wasserläufe und Brunnen dargestellt. Sie waren in der wasserarmen Landschaft Palästinas buchstäblich Quelle des Lebens. Ihr frisches Wasser war notwendig zum Trinken und wurde auch zur rituellen Reinigung verwendet – und später, unter den Jüngerinnen und Jüngern des Johannes und Jesu, in der Taufe zum Symbol eines ganz neuen Lebens.