“Jüdische Hochzeitsnacht”: Dieser Titel klingt schon etwas schlüpfrig. Der Film hat aber nichts Voyeuristisches, im Gegenteil. Die Doku gibt aufschlussreiche Einblicke in eine Gemeinschaft, die sich für gewöhnlich von der Welt völlig abriegelt. Eine religiöse Community, die aber – nicht zuletzt dank erfolgreicher Serien wie “Shtisel” und “Unorthodox” – ein erstaunliches mediales Interesse auf sich zieht. Auch über die rigide Partnervermittlung und die aus heutiger Sicht fremdartig anmutende Sexualmoral der chassidischen Juden gibt es zahlreiche Filmprojekte.
Rachel Elizur, selbst Teil der chassidischen Community – in der sie aber dank ihrer Situation als unverheiratete, kinderlose Frau eine Sonderstellung einnimmt -, geht einen Schritt weiter. In ihrem Film kommen Mitglieder der ultra-orthodoxen jüdischen Gemeinschaft zu Wort, die sich an die teils 20 Jahre zurückliegende Partnervermittlung sowie das Ritual der Hochzeitsnacht erinnern. Frauen und Männer, die diese Erlebnisse verblüffend detailreich schildern, wollen jedoch selbst nicht vor die Kamera. Die Protagonisten werden daher von Darstellern vertreten, die selbst der jüdischen Gemeinschaft angehören.
“Eheunterricht” und abschließender “Brauttanz mit Rabbi”
Indem Elizur nachinszenierte Szenen als solche ausweist, verliert das in Dokudramen oft eingesetzte Reenactment seine holzschnittartige Künstlichkeit. So gliedert der Film das autoritär anmutende jüdische Brauchtum in einzelne Kapitel auf, etwa den “Eheunterricht” und den abschließenden “Brauttanz mit Rabbi“. Visualisiert werden diese Erinnerungen mit Szenen traditioneller Hochzeitsfeiern sowie dem Blick auf alltägliche Verrichtungen rund um das Fest der Vermählung, etwa das Backen von Brot.
Wie in anderen strenggläubigen religiösen Gruppen gibt es auch bei den Chassiden keinen Sex vor der Ehe. Verstärkt wird dieses Tabu dadurch, dass in dieser hermetisch abgeriegelten Gemeinschaft obendrein “niemals über intime Dinge gesprochen” wird. Intimität wird so zu etwas Fremdartigem wie ein Alien. Schilderungen von Menschen, die im Zuge arrangierter Ehen unversehens mit Sexualität konfrontiert werden, muten daher auf den ersten Blick schon beinahe grotesk an.
“Ich dachte, dass Babys durch den Nabel zur Welt kommen”
Nachdem Paare von einem Kuppler zusammengebracht wurden, erklärt zum Beispiel eine “Hochzeitstutorin” den Geschlechtsakt mit Puppen oder einem “Reagenzglas mit Wattestäbchen”. Manch einer ist von diesem Thema überfordert: “Ich dachte, dass Babys durch den Nabel zur Welt kommen”, heißt es in der Doku. Müssen Paare sich dann noch während der Feierlichkeiten in die “Hochzeitskammer” zurückziehen, so fühlen Frauen und Männer sich nicht selten wie in einem falschen Film.
Dabei repräsentiert die Heirat bei den Ultra-Orthodoxen nicht nur das Band zwischen zwei Individuen. Sie festigt wie in vielen Religionsgemeinschaften ebenso den Zusammenhalt der gesamten Community. Insofern wirft Rachel Elizur aufschlussreiche Blicke unter die Bettdecke des Glaubens beziehungsweise einer Glaubensgemeinschaft.
Protagonisten schildern “traumatische Erfahrungen”
Man wäre nicht verwundert, wenn manche sich von den Ritualen der chassidischen Community mit deutlichen oder gar emotionalen Worten distanzieren würden. Hier und da ist dies auch der Fall. Einige der zu Wort Kommenden würden die Zeit gerne zurückdrehen, um statt der gekünstelten Intimität, zu der sie durch den Druck der Gemeinschaft genötigt wurden, ein harmonisches Aufeinander-Zugehen zu praktizieren: “Wir würden beieinander sein – und vielleicht sogar danach zusammen eine Zigarette rauchen.”
Obwohl einige der Protagonisten ihre Erlebnisse explizit als “traumatische Erfahrung” schildern, ist ihr Tonfall nie wirklich verbittert. Aufgrund der reflektierten und besonnenen Ausdrucksweise hat man auch nie den Eindruck, hier sprächen entfremdete Individuen, die von einer Sekte einer Gehirnwäsche unterzogen wurden.
Menschen, die nichts schön reden
Genau deshalb erzeugt dieser Film einen irritierenden Effekt. So misst man insgeheim den verklemmt und tabuisiert anmutenden Zugang zur Erotik innerhalb dieser ultra-orthodoxen Gemeinschaft an aufgeklärter, westlicher Sexualpädagogik. Da der Film vorurteilsfrei an sein Thema herangeht, spürt man aber, dass diese Rechnung nicht wirklich aufgeht. Im Gegensatz zu anderen Glaubensrichtungen, in denen Defizite in der rigiden Sexualmoral zuweilen verklärt werden, kommen in diesem Film Menschen zu Wort, die nichts schön reden. Und so verdichtet sich der Eindruck, dass etwas Universelles verhandelt wird. Und obwohl von Gott nur am Rande die Rede ist, erfährt man trotzdem viel über Glauben.
“Jüdische Hochzeitsnacht”: Dienstag, 18. Juni, 21.45 Uhr auf Arte und bereits ab 16. Juni in der Arte-Mediathek.