Bei den ritualisierten Reaktionen auf die Austrittszahlen lassen sich grob drei Muster skizzieren:
1. Es wird alles noch schlimmer kommen, und man kann eh nichts dagegen machen.
2. Kein Grund zur Panik, das sind die notwendigen Begleiterscheinungen von Individualisierung und Pluralisierung.
3. Rezepte für Gegenmaßnahmen – eindeutig die größte Gruppe – mit drei Unterpunkten: 3a: Profil schärfen; 3b: Vergrößerung der Angebotspalette; 3c: Näher ran an die Lebenswelten und die Milieus.
Der Abschied von der Volkskirche – und um nichts anderes handelt es sich bei den von mir geschilderten Veröffentlichungsritualen – fällt schwer. Und er ist mit Trauer und Schmerz verbunden. Daher die Rituale. Ich möchte deshalb aus meiner ganz persönlichen Sicht den Weg meines trauernden Abschieds von der Volkskirche beschreiben.
Die Hochzeit der Volkskirche fiel zusammen mit den ersten zwei Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland. Durch die neu eingeführte Kirchensteuer und die Ludwig-Erhard-Wunderjahre sprudelten die Geldquellen wie nie zuvor. Durch Grundgesetz und Staatsverträge waren die Kirchen fest im Gefüge der Bundesrepublik verankert.
Volkskirche gehörte selbstverständlich dazu
Vor allem aber war Volkskirche individuelle Realität. Zumindest in meinem Leben. Das wohl wichtigste Element dabei war der Kindergottesdienst mit dem Höhepunkt des jährlichen Krippenspiels in der bis auf den letzten Platz gefüllten Südkirche in Esslingen am Neckar.
Der nächste wichtige Faktor der guten alten Volkskirche war der damalige Stadtpfarrer Paul Schmidt, Mitglied der Bekennenden Kirche und der sogenannten Schwäbischen Pfarrhauskette, die gefährdete jüdische Menschen oft unter eigener Lebensgefahr versteckte. Er war eine Instanz, ganz einfach dadurch, dass er da war. Auf der Straße wurde er von allen gegrüßt. Im Laden traten selbst ältere Frauen höflich beiseite, um ihm den Vortritt zu lassen. Und er hatte ein Auto, in dem er uns Jungen manchmal auf einem Feldweg ans Steuer ließ. Das alles war, nein sicher nicht: gelebte Religion (oder vielleicht doch?), auf jeden Fall aber gelebte Volkskirchlichkeit.
Verschiedene Arten der Frömmigkeit
Nicht zuletzt hieß Junge-Sein für mich damals CVJM. Man hörte spannende Geschichten, sah Filme – und hörte sich auch die unumgänglichen Bibel-Arbeiten an. Während der CVJM-Lager in Wildberg im Schwarzwald spürte man bei den nächtlichen Lagerfeuern etwas von romantischer Gemeinschaft, die dann aber in den Kampf-Geländespielen sogleich auf eine harte Probe gestellt wurde.
Dann gab es noch die Vielfalt der Frömmigkeit. Esslingen – das war „normale“ Volkskirche mit evangelikalen Einsprengseln. Ein ganz anderes Gesicht der Volkskirche begegnete mir bei Verwandten in Hülben auf der Schwäbischen Alp: der Alt-Pietismus. Beinahe das ganze Dorf ging am Sonntagmorgen zum Gottesdienst – die Männer mit schwarzen Anzügen, die Frauen im Sonntagskleid mit Hut oder Kopftuch. Und nachmittags traf sich der harte Kern in der sogenannten „Stunde“. Es wurden dort wunderschön kitschige Lieder gesungen, aus der Bibel gelesen und – vor allem – darüber gesprochen. Ich habe nirgendwo so viel an geistreicher Häresie gehört wie dort.
Längst nicht alles war gut
Selbstverständlichkeit; personale und rituelle Präsenz im Alltag und Außeralltäglichen; Pluralität der Frömmigkeitsstile – das sind für mich Merkmale der Volkskirche. Aber wir alle wissen, dass es diese Volkskirche nicht mehr gibt. Sie ist tot, mausetot. Und das tut weh.
Nun will ich nicht in nostalgischer Melancholie versinken, sondern greife zu einem ersten Gegenmittel, nämlich die Erinnerung an ihre andere Seite: die gar nicht so gute alte Volkskirche. Denn diese Volkskirche hatte auch eine andere Seite. Sie hatte Macht und nutzte sie.
Ein Beispiel: Für die Taufe meiner Schwester wünschten meine Eltern einen Taufgottesdienst am Nachmittag. Dieser Wunsch war Anlass für einen vierwöchigen Streit zwischen meinem Vater und unserem Gemeindepfarrer. Der Pfarrer nahm seine theologische Deutungshoheit in Anspruch und ließ sich nicht ins Handwerk reden. Ein Taufgottesdienst außerhalb des regulären Gemeindegottesdienstes am Sonntagvormittag sei völlig undenkbar. Am Ende ging der Streit doch zugunsten meines Vaters aus.
Dunkle Seiten auch in der Jugendarbeit
Auch die wunderschönen Sommerfreizeiten des CVJM hatten ihre dunklen Seiten. Immer wenn ich Filme über die Hitlerjugend sehe, zucke ich zusammen. „Das kennst du doch“, sage ich mir. Am Morgen gab es vor dem Frühstück den Fahnenappell. „Kreuzesfahnen wollen uns bahnen den Weg durch die finstere Nacht. Mutig wir schreiten Seiten an Seiten, denn Christus ist unsere Macht. Christ Kyrie, dir weihen wir Jugend und Leben, Christ Kyrie, dir singen wir hell unser Lied“ – so wurden wir Morgen für Morgen in den „Heiligen Krieg“ gerufen. Die romantischen nächtlichen Holzfeuer waren gleichzeitig verbunden mit einem Hell-Dunkel-Freund-Feind-Denken. Das Ganze war dann noch begleitet von einer rigorosen Sexualmoral.
Ich weiß natürlich, dass der Vergleich mit der Hitler-Jugend ungerecht ist. Und ich weiß auch, dass das Lied von einem Pfarrer der Bekennenden Kirche stammt und gegen den Totalitätsanspruch des Nationalsozialismus geschrieben war. Gleichwohl gruselt mich, wenn ich daran denke, was uns jungen Menschen im Kontext einer volkskirchlichen Kultur in unsere Gemütswelt eingepflanzt wurde.
Tod „unserer“ Volkskirche ist nicht nur ein Verlust
Und ein Letztes: Als wir im Jahre 1977 – diese Jahre waren so ungefähr die Abendstunden der starken intakten Volkskirche – in Stuttgart das Vikariat begannen, wurde uns als erstes erzählt, was alles auf keinen Fall geht: eine homosexuelle Partnerschaft offen zu leben, eine jüdische Frau zu heiraten, die Gemeinde sehen lassen, dass der Freund oder die Freundin bei einem übernachtet.
Fazit: Es gibt nicht nur Grund zur Trauer über Verluste, sondern mancher Verlust stellt auch einen Lebensgewinn dar. Der Tod „unserer“ Volkskirche ist eben nicht nur ein Verlust.
Was folgt nun aus meiner kleinen biografischen Erzählung vom Leben und Tod „unserer“ Volkskirche? Lassen sich meine individuellen Erfahrungen mit diesem Leben und Tod öffnen hin zu verallgemeinerbaren Perspektiven? Ich möchte gerne zwei benennen.
Das eine Rezept gibt es nicht
Zum einen: Die sich seit drei Jahrzehnten wiederholenden Rezepturen zeigen eines mit Gewissheit – es gibt sie nicht, die Rezepte. Alles, was in den Rezepten vorgeschlagen wird, wurde in vielen Landeskirchen bereits auf oft fantasievolle und kompetente Weise umgesetzt, aber ohne den versprochenen Erfolg, nämlich den Trend umzukehren oder wenigstens aufzuhalten.
Das heißt nun gerade nicht, dass all dies nicht sinnvoll war und ist. Aber wir sollten es nicht als Rezepte gegen den Tod der Volkskirche verstehen. Wir tun das allein deshalb, weil es die Menschen verdient haben, bei ihren Begegnungen mit Kirche etwas Lebensdienliches zu erfahren und zu erleben. Aber all diese Rezepte werden in dem Augenblick vergiftet, wo wir von ihnen ein „Mehr“ an Beteiligung und Kirchenbindung erwarten.
Reformatorisch grundierte Gelassenheit
Daraus ergibt sich für mich zum anderen: Ich rate zu einer reformatorisch grundierten Gelassenheit, wobei Gelassenheit nicht Passivität meint, sondern ein sehr qualifiziertes Tun. Ich würde die Gegenwart der Nach-Volkskirche beschreiben als eine Kirche, die sich – nach Wegfall von Traditionsbindung und institutionellen Privilegien – nur noch darauf verlassen kann, dass ihr Tun und Reden den Menschen aus sich selbst heraus plausibel und lebensdienlich erscheint.
Wie viele Menschen das heute sind oder morgen sein werden, das weiß ich nicht. Aber unsere Kirche nähert sich dem an, was in den ersten reformatorischen Auseinandersetzungen einmal gefordert wurde – nämlich sich auf ein Wirken „sine vi humana sed verbo“ (ohne menschliche Gewalt, sondern allein durch Gottes Wort) (Confessio Augustana 28) einzulassen. „Allein das Wort“ meint natürlich nicht eine Verengung kirchlichen Handelns auf Sprache. Aber es erinnert uns daran, dass alles kirchliche Handeln davon lebt, dass es die Menschen wie ein schönes Gedicht, wie ein anmutendes Bild, wie eine Melodie, die mir nicht mehr aus dem Sinn geht, gleichsam sanft anmutet und so in seinen Bann zieht. Die „Anmutung“ ist die stärkste Kraft der Kirche in der Zukunft. Sollte es je ein Rezept geben, so trüge dies den Namen „Anmutung“.
Albrecht Grözinger ist Pfarrer und Professor em. für Praktische Theologie an der Universität Basel