Kein Text hat die Weltgeschichte so beeinflusst wie die Kapitel 5 bis 7 des Matthäusevangeliums. In der Bergpredigt konzentriert sich die Lehre Jesu, sie enthält die Kernstücke des Glaubens. Ihre Wirkungsgeschichte zieht sich durch 2000 Jahre Christentum. Und von Beginn an wurde darüber nachgedacht, ob diese Regeln denn für jeden immer und überall gelten. Gelten sie auch für den Staat, der seine Bürger verteidigen muss? Bereits der Apostel Paulus denkt in seinem Brief an die Römer (Kapitel 13) über eine gewaltgestützte Obrigkeit nach. Spätestens mit dem Aufstieg des Christentums zur Staatsreligion im 4. Jahrhundert relativierte sich die kompromisslose Lehre Jesu. Das Eidverbot, die Feindesliebe und der Gewaltverzicht wurden mehr und mehr aufgeweicht.
Doch die Verwässerung der Worte Jesu rief immer wieder radikalchristliche Bewegungen auf den Plan. Mit Berufung auf die Bergpredigt stellten sie die sich anpassende Kirche infrage und wurden dafür gnadenlos verfolgt: zum Beispiel die Waldenser, die Katharer oder die Täufer. Manchmal gelang die Rückbesinnung auf die Bergpredigt auch im Bereich der Kirche. Franz von Assisi und seine Anhänger predigten und lebten Armut und Verzicht, Frieden und Feindesliebe. Ihre Impulse wirken bis heute nach.
Kritik an der Kirche mit Hilfe der Bergpredigt
Sie alle beriefen sich auf eine radikale Jesus-Ethik und sahen die Gebote der Bergpredigt als eindeutig, verbindlich und erfüllbar. Sie hatten keinen Grund anzunehmen, Jesus habe seine eigenen ethischen Forderungen nicht befolgt und auch gar nicht erwartet, dass sie befolgt werden. Für sie war klar: Jesus sagte genau, was jetzt getan werden muss, er wollte, dass seine Jünger kompromisslos in seine Nachfolge eintreten und nach seiner Lehre leben.
Von den Kirchen wurde die Frage nach der Realisierbarkeit der Bergpredigt ganz unterschiedlich beantwortet. Aus Sicht der katholischen Lehre galten Jesu Forderungen lange nur für diejenigen, die sich zu besonderer Frömmigkeit und besonderem Gehorsam verpflichtet haben, also für Mönche und Asketen. Sie sind „evangelische Ratschläge“ für die Vollkommenen. Nur sie sind in der Lage, diese hohen Erwartungen zu erfüllen. Für normale Christen, die eine Familie haben und im Beruf stehen, gelten allein die Zehn Gebote. Damit wurde eine Rangordnung unter den Nachfolgern Christi aufgestellt, die Bergpredigt wurde zur Mönchsregel. In einem 1975 in der Schweiz erschienenen „katholischen Katechismus“ heißt es sogar: „Die Anweisungen in der Bergpredigt sind nicht wörtlich zu nehmen, weil das sowohl im privaten wie im öffentlichen Leben zu unhaltbaren Zuständen führen würde.“
Martin Luther ging noch weiter: Die radikalen Gebote wollen gar keine ethische Anweisung sein, sondern vielmehr deutlich machen, dass der Mensch den Willen Gottes von sich aus eben gerade nicht erfüllen kann. Erst wenn dies dem Menschen klar wird, hat er seine Situation richtig erkannt: Der Mensch ist Sünder, und das Gesetz macht die Verlorenheit des Menschen und seine Unfähigkeit zum Guten deutlich. Der Mensch muss erkennen, dass er auf Gottes Gnade, Barmherzigkeit und Vergebung angewiesen ist.
Luther hat die Bergpredigt in diesem Sinne im Rahmen seiner Rechtfertigungslehre als Sündenspiegel gesehen; sie ist ein einziger Bußruf. In den Worten des Theologen Gerhard Kittel: „Der Sinn der Bergpredigt ist: Niederreißen. Sie kann nur zerbrechen. Sie hat letzten Endes nur den einen einzigen Sinn: die große Not des Menschentums aufzuweisen und bloßzulegen.“
Im Rahmen der „Lehre von den zwei Regimenten“ sagte Luther, als Privatperson solle sich der Christ durchaus bemühen, die Forderungen der Bergpredigt zu erfüllen. Als Amtsperson jedoch, im öffentlichen Bereich, kann er diesen Geboten nicht folgen. Sonst würden Anarchie und Chaos ausbrechen. Zumal wenn er für andere Verantwortung trägt, kann der Christ nicht einfach auf Gewalt verzichten, dann muss er mit allen Mitteln des weltlichen Regiments das Lebensnotwendige tun, notfalls mit Gewalt. Auch bei Luther wird die Frage nach der Erfüllbarkeit und dem Geltungsbereich also nicht einfach beantwortet, sondern in die Spannung von weltlichem und göttlichem Regiment, von Reich Gottes und Reich der Welt hineingenommen.
Spannung zwischen weltlich und göttlich
In der Folge wurde auch die These aufgestellt, Jesus sei es gar nicht um neue Gesetze und konkrete Anweisungen gegangen, sondern um die innere Haltung, um Gesinnung, um die rechte Herzenseinstellung. Die liberale Theologie des 19. Jahrhunderts sagte, Jesus habe lediglich ein neues Bewusstsein schaffen wollen. Ähnlich argumentierte der philosophische Idealismus im Gefolge Immanuel Kants. Genügt aber bereits die gute Gesinnung, das gute Herz?
Albert Schweitzer sah die Forderungen der Bergpredigt in der Gewissheit formuliert, dass das Ende dieser Welt bevorsteht und die Gottesherrschaft naht. Nur für diese Zwischenzeit bis zur vollkommenen Verwirklichung des Reichs Gottes seien Jesu Weisungen gedacht. Schweitzer spricht jedoch auch von einem „heroischen Moralismus Jesu“, dem man unter veränderten Bedingungen in ähnlich heroischer Weise nachzufolgen habe.
Leo Tolstoi diskutierte 1894 in seinem Buch „Das Himmelreich in euch“ das Prinzip der Gewaltlosigkeit Jesu. Er sah einen Gegensatz zwischen der russisch-orthodoxen Kirche, die mit dem Staat vereint war, und der wahren Botschaft Jesu in der Bergpredigt. Graf Tolstoi versuchte, auf seinem Gut Jasnaja Poljana ein reines Urchristentum in Form einer ländlichen Genossenschaft zu begründen. Als Tolstojaner lebten seine Anhänger in dieser Form weiter, bis ihre religiösen Genossenschaften mit Stalins Kollektivierung des Jahres 1929 aufgehoben wurden.
Eine Vorlage für eine bessere Welt
1908 schrieb Tolstoi einen Leserbrief an eine indische Zeitung, in dem er die Meinung vertrat, dass das indische Volk die britische Kolonialherrschaft nur durch passiven Widerstand auf der Basis von Nächstenliebe zu Fall bringen könne. Im Jahr darauf schrieb Gandhi an Tolstoi, und es folgte eine andauernde Korrespondenz bis zu seinem Tod im Jahr 1910. In den Briefen ging es auch um praktische und theologische Anwendungen der Gewaltlosigkeit. Tolstois Idee wurde schließlich durch Gandhis Organisation landesweiter gewaltfreier Streiks und Proteste in den Jahren 1918-1947 realisiert. Gandhi bezog sich immer wieder auf Jesu Forderung in der Bergpredigt: „Ich aber sage euch, dass ihr dem Übel nicht widerstehen sollt; sondern wenn dir jemand einen Streich gibt auf deine rechte Backe, dem biete auch die andere dar.“
Die pazifistische und sozialrevolutionäre Auslegung der Bergpredigt beeinflusste auch die politische Theologie. Sie sah die Bergpredigt als erfüllbar an – als Vorlage für eine bessere, friedlichere und gerechtere Welt. Ihre Vertreter waren Martin Luther King, Dorothee Sölle und Jürgen Moltmann. Nelson Mandela und Bischof Desmond Tutu haben in Südafrika unter ausdrücklicher Berufung auf Jesu Bergpredigt die menschenverachtende Politik der Rassentrennung aufgehoben.
Es gab aber immer wieder entschiedene Kritiker der Bergpredigt – auch unter den Denkern, die sie ernst nahmen. Friedrich Nietzsche sah in der Bergpredigt die Sklavenmoral des Christentums begründet, eine Religion des Ressentiments und des Neids der Feigen und Untüchtigen, die dem Leben nicht gewachsen sind. Nietzsche spottete, die Bergpredigt sei die Rache der Verlierer an den Starken, Erfolgreichen und Glücklichen. Zu den Kritikern gehört auch der deutsche Soziologe Max Weber, der die Bergpredigt in der Politik für unanwendbar hielt. Für den Politiker gelte vielmehr: „Du sollst dem Übel gewaltsam widerstehen, sonst bist du für seine Überhandnahme verantwortlich.“ (Politik als Beruf, 1919)
Zuwendung, nicht Forderung am Anfang
Keine dieser Deutungen ist völlig falsch, gegen jede gibt es gleichzeitig gewichtige Einwände. Doch immer bleibt die Bergpredigt Jesu eine Zumutung. Diese Zumutung steht allerdings nicht im leeren Raum. Am Beginn der Bergpredigt steht – in Form der Bergpredigt – nicht Forderung, sondern Zuwendung. Was die Bergpredigt bedeutet, wird dann sichtbar, wenn die Seligpreisungen Gestalt gewinnen, wenn Christen Salz und Licht werden.