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Im Elternhaus lebten fremde Menschen

In dem kleinen Gedenkgarten im mittelhessischen Londorf setzt sich Luke Schaaf auf eine Bank. Schmetterlinge umflattern Blumen und Büsche. Mehrere Steinsäulen erinnern an die ehemaligen jüdischen Bewohner des Ortes. Eines der Schicksale hat Luke Schaaf recherchiert und schreibt ein Buch darüber: Ruth Wertheim überlebte als junges Mädchen das Konzentrationslager Auschwitz. „Sie war 15 Jahre alt, als sie deportiert wurde“, sagt der Schüler. „Ich war 15, als ich mit dem Projekt begann.“

An das Projekt geriet er durch einen Zufall: An seiner Schule, der Theo-Koch-Schule in Grünberg im Landkreis Gießen, bot eine Lehrerin eine AG zu jüdischen Lebensgeschichten an. Die Schülerinnen und Schüler trugen ihre Ergebnisse vor Nachfahren der Holocaustopfer vor. „Da habe ich die Menschen gesehen und gemerkt, was das alles bedeutet.“ Der heute 18-Jährige entschied: „Ich mache mein eigenes Projekt.“ Er konzentrierte sich auf eine Biografie, auf Ruth Wertheim.

Im September 1942 war Ruth zusammen mit ihrer Familie und den restlichen in Londorf lebenden Juden deportiert worden. Ihr Großvater starb im KZ Theresienstadt, Ruth erlebte mit, wie ihre Eltern in Auschwitz für den Gang in die Gaskammern selektiert wurden. Sie selbst kam 1944 als Zwangsarbeiterin in das KZ-Außenlager Merzdorf, das sowjetische Soldaten 1945 befreiten. Ihre Schwester Inge starb ebenfalls in Auschwitz.

Ruth kehrte zurück in ihr Heimatdorf, als einzige Überlebende der deportierten Juden aus Londorf, doch im Elternhaus lebten jetzt fremde Menschen. Sie schrieb an ihre Tante und ihren Onkel, die in die USA geflüchtet waren, und zog zu ihnen. Ruth heiratete bald und wurde Mutter. Luke Schaaf nahm Kontakt zu ihren beiden Kindern auf. Ihr Sohn Lawrence Bacow war langjähriger Präsident der Elite-Uni Harvard.

Ruth Wertheim ist 1994 gestorben. Viele Jahre lang konnte sie nicht über Auschwitz sprechen. Sie habe nur wenige Berichte hinterlassen, erzählt der Schüler. Da sind die Briefe, die sie ihrer Tante in die USA schrieb, und ihre Tochter Lainey führte ein Audio-Interview mit ihr. Luke Schaaf fand zudem einige wenige Zeitzeugen: Als Ruth Londorf verlassen musste, gab sie ihre geliebte Puppenküche an ein kleines Mädchen aus der Nachbarschaft weiter. Dieses erinnerte sich noch vage an Ruth und beschrieb sie als hübsches Mädchen mit Locken.

Luke hat Ruths Familie bereits in den USA besucht. Menschen, die er interviewte, hätten über sie gesagt: „Sie war der bemerkenswerteste Mensch, den ich je getroffen habe.“ Sie sei unglaublich positiv gewesen, großzügig, habe anderen geholfen. Aber es gab auch die andere Seite: Ruth litt unter Albträumen und einer Herzerkrankung, vermutlich eine Folge der Unterernährung im Arbeitslager. „Ein Leben nach Auschwitz“ heißt Luke Schaafs Buch. Er gehe darin der Frage nach: „Wie konnte sie so resilient leben?“

Noch in diesem Jahr soll es im Eigenverlag erscheinen, es gibt schon Hunderte Vorbestellungen. Das Projekt ist umfangreicher geworden als anfangs geplant. Er sei in erster Linie Schüler, sagt der Elfklässler. Er spielt Tischtennis, engagiert sich in pro-demokratischen Projekten, ist Schulsprecher.

Unterstützung bekommt er weiterhin von seiner Lehrerin. Mit dem Preisgeld eines Engagementpreises vom Landkreis Gießen will er erneut in die USA fliegen und Ruths Familie ein Buchexemplar überreichen.

Im Gedenkgarten in Londorf betrachtet Luke Schaaf die Stele der Familie Wertheim: die Eltern Leopold und Emma, die Kinder Ingeborg und Ruth. Jemand hat weiße Kieselsteine auf die Säule gelegt. Seine Motivation sei, zu zeigen, „was Hass und Hetze anrichten können“. Es sei wichtig, gerade in der heutigen Zeit, aufzustehen und gegen Rassismus und Judenhass zu kämpfen. Luke Schaaf sagt: Wenn es auch nur einen Menschen gebe, der das Buch lese und denke: Vielleicht sollte ich mal aktiv werden – „dann hat sich das gelohnt“.