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Ich esse, also bin ich

Es ist ein schmaler Grat zwischen genussvollem Schlemmen und der fünften Todsünde „Völlerei“. Dass die Lust am Genuss das eigentliche Laster ist, findet der Journalist Reiner Trabold.

Der Zuruf, etwas über die „Todsünde“ der Völlerei zu schreiben, hat mich aufgeschreckt. Weil jeder sehen kann, dass es mir schmeckt, dass ich genieße, weil ich einen dicken Bauch mit mir herumschleppe. Aber bin ich ein Völler? Stopfe ich in mich hinein, was mir auf den Teller kommt oder mir in die Finger fällt?
So habe ich mich nie gesehen, aber ich habe jetzt einen Grund darüber nachzudenken. Ich kann genießen, das stimmt. Und wäre nicht die Freude am guten Essen, ich müsste mich noch mehr mit der Freude am guten Trinken beschäftigen.

14 Tage lang nur Gemüsebrühe und Tee

Absurd. Als Erstes kommt mir Charlie Chaplin in Zusammenhang mit Völlerei in den Sinn: Die Szene wie er im „Goldrausch“ seinen Stiefel auskocht und wie einen Leckerbissen verspeist. Oder meine Fastenkur, in der ich mir 14 Tage lang nur Gemüsebrühe und Tee einflößte. Nein, von Ernährung kann ich da nicht sprechen. Aber die Kilos sind gepurzelt. Auch der Spielfilm „Sieben“ mit Brad Pitt erinnert mich an die Themenstellung. Da geht es um die sieben Todsünden Hochmut, Neid, Trägheit, Habgier, Zorn, Wollust und Völlerei. Ein Irrer meuchelt nach dem himmelschreienden Sündenregister der katholischen Kirche einen nach dem andern. Den Fresssack erwischt es als Ersten. Grausam.

Auf dem Kupferstich von Pieter Bruegel aus dem 16. Jahrhundert sind die Dickbäuche zu sehen, die in sich hineinstopfen und saufen, das Monster nicht wahrnehmen, dem sie gestopft geopfert werden. Sie kümmern sich auch sonst um nichts, was sie scheren müsste. Nein, sage ich mir, damit habe ich nichts zu tun. Die Zeiten haben sich verändert. Ich bin kein Fresser. Gourmet lasse ich mich noch nennen, schon mit dem Gourmand will ich mich nicht identifizieren.

Der Wanst als Kennzeichen für die Völlerei ist für mich nicht akzeptabel. Gewiss, ich lebe in diesem Widerspruch, einerseits korpulent, wenn auch nicht richtig fett zu sein, andererseits jeden Gaumenschmaus ständig in Brennwerte umzurechnen und als Kaloriensünde zu verbuchen. Darunter leidet die eigentliche Sünde: die Lust auf Genuss. Damit wären wir beim Begriff aus der Folterkammer der Kirche. Die Lust am ungehemmten Schlemmen als „Todsünde“ zu brandmarken, klingt in der Neuzeit ganz anders, als es früher gewesen sein muss. Unter früher verstehe ich das Mittelalter und die Zeit nach den Kriegen, in denen Schmalhans Küchenmeister war. Unvergessen die Not im Dreißigjährigen und den beiden Weltkriegen, in und nach denen es nichts gab und die Menschen hungerten, viele sogar verhungerten. Natürlich sind einem auch diese fürchterlichen Bilder von darbenden Menschen in der sogenannten Dritten Welt vor Augen.

Die Nadel zittert sich auf der Skala der Waage zur 125. Ich besteige sie ungern. Vor allem, wenn ich genau weiß, dass ich wieder etwas zugelegt habe, weil das Hemd spannt, der Hosenbund zwickt. Ich hasse mich, denn ich bin schwach. Dabei kann ich stark sein, kann mich quälen, hungern, fasten, habe schon tagelang von Wasser, Brühe, Tee gelebt, überlebt, habe sogar diese Endorphine in mir aufsteigen gespürt – wenn sich die Nadel der Waage senkte. Was unsere Hormone alles mit uns anstellen. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn der Körper heißhungrig nach etwas zum Beißen schreit wie ein hungriges Baby.

Das ist die eine Seite der Völlerei: verzichten, um sich dem Hunger geschlagen zu geben. Die andere nenne ich Genuss pur. Nein, es ist nicht das übermäßige Verschlingen von Delikatessen, sondern das lustvolle Schlemmen. Die Lust ist die eigentliche Sünde. Nur Asketen wissen nicht, was gemeint ist.

Diäten habe ich längst abgeschworen. Verzicht ist nämlich der erste Schritt zur Niederlage. In meinen Bücherregalen gibt es eine Menge Kochbücher. Ich esse nicht nur ausgesprochen gern, ich bereite mit ähnlicher Leidenschaft auch vor, was auf den Tisch kommt. Für die Familie, für Freunde, am Ende auch für mich. Die Literatur dazu dient mir nicht als Anleitung, ich mache mir Appetit damit. Nur ganz selten koche ich nach Rezept. Genauso wie ich die Brennwerte aller Zutaten kenne und kalkulieren kann.
Ich weiß also, was ich tue. Aber es hält mich nicht davon ab. Ratgeber bilden die andere Seite im Regal. Ganz anders als die opulenten Kochbücher zeigen sie schlank und farblos den Weg zur Wohlfühlfigur.

Mit diesem adipösen Ranzen ist das Leben schwer. Er behindert mich. Viele halten ihn für einen Bierbauch. Falsch. Ich trinke kein Bier. Wein hat’s mir angetan, vor allem der wunderbare Riesling, der an der Bergstraße vor meinen Augen wächst. Irrtum. Wenn ich ihn streiche, nehme ich nicht ab – vielleicht nicht weiter zu. Wein, das ist kein Geheimnis, hat um die zwölf Prozent Alkohol, und Alkohol macht nicht nur trunken, sondern auch dick. Ein Glas (0,2 Liter) Weißwein hat 120 Kalorien, und das ist schnell getrunken. Nur ein Vergleich: Die Zuckerbombe Cola hat „nur“ 84. Schlimmer noch. Der Alkohol im Wein hemmt die Fettverbrennung (auch das ein Wort aus der Schlechte-Laune-Kultur).

Wie auch immer. Viele, viele Flaschen Wein hängen wie ein Rucksack an mir. Obwohl: Es sind – unter uns – nicht nur Riesling und Co, die mir dieses Ungetüm von Bauch beschert haben. Ich sehe ihn als Ursache allen Übels, als ungerechte Strafe für die Sünde. Er ist nicht nur im Weg, er macht krank. Die Kehrseite unbotmäßiger Völlerei. Das viszerale Fettgewebe umgibt anders als das subkutane (unter der Haut) die inneren Organe. Und es ist verdammt hartnäckig. Es hängt an mir wie ein Bleigewicht.

Ein ständiges, wenn auch delikates Mästen

Viele Menschen lehnen Stopfleber strikt ab, weil sie die Herstellung, das Mästen der Enten und Gänse, als Tierquälerei verurteilen. Sie denken sich freilich nichts oder wenig dabei, die magere Hähnchenbrust als gesundes Lebensmittel zu essen, das in Massentierhaltung erzeugt wird. Tiere, die nie Tageslicht sehen und nur auf die Welt kommen, um als Hähnchenbrust zu enden.

Ich vergleiche mich ungern mit einer Fettleber, aber der Mechanismus ist gleich. Es ist ein ständiges, wenn auch delikates Mästen. So wie dem Geflügel das Zuviel an Lebensmitteln zusetzt, so ist es beim Menschen. Sagen wir’s ruhig: bei mir. Ich habe mir diesen Bauch antrainiert.
Da spielt natürlich die Veranlagung eine Rolle. Der alles verwertende Stoffwechsel gehört dazu. Die Gene also. Ich habe den Bauch geerbt. Egal von wem. Wenn ich sehe, was andere vertilgen können – ohne fett zu werden, regelrecht dürr zu sein. Unverschämt. Höchst ungerecht. Es ist nie und nimmer Völlerei, die für meine Fettleibigkeit verantwortlich zu machen ist.
Es ist Schicksal. Und trotzdem schmeckt’s.