Artikel teilen

Historikerin schreibt erste Geschichte der Besatzung im Krieg

Während des Zweiten Weltkriegs lebten zeitweise 230 Millionen Menschen von Norwegen bis Griechenland und von Frankreich bis in die Sowjetunion unter deutscher Herrschaft. Wie stellte sich das dar?

In den Fotoalben, die deutsche Soldaten während des Zweiten Weltkriegs angelegt haben, sieht es oft nach Spaß aus: Sie zeigen sich als Touristen oder beim Betrachten französischer Kathedralen, beim Sonnenbaden oder beim Skifahren in Norwegen. Tatjana Tönsmeyer, Professorin für Neuere Geschichte, schreibt in ihrem kürzlich erschienenen Buch “Unter deutscher Besatzung”, dass in den besetzten Ländern die Einwohner aber schon sehr bald wussten, dass die Deutschen als Eroberer gekommen waren und sie daher Besiegte waren.

Die Historikerin schreibt eine erste Gesamtdarstellung in deutscher Sprache darüber, wie es war, unter deutscher Besatzung zu leben. Sie stellt daher Erfahrungen, Wahrnehmungen und Selbstdeutungen der Menschen in Mittelpunkt und will auch ausloten, wie es um die Handlungsfähigkeit der Menschen unter der Besatzung aussah. Sie weist darauf hin, dass die Kriegshandlungen oftmals kurz, aber die Besatzung Jahre dauerte. In den Niederlanden dauerten die Kämpfe nur wenige Tage, die Besatzung jedoch fünf Jahre. In Polen lebten die Menschen nach fünf Wochen Krieg sechs Jahre unter der Herrschaft des NS-Regimes.

Die Menschen waren Verlierer eines gegen ihren Staat geführten Angriffskriegs und mussten sich jeden Tag gegenüber den deutschen Besatzern verhalten. Die Historikerin Tönsmeyer beschreibt das als ein asymmetrisches Verhältnis, schon allein deswegen, weil die einen Waffen tragen durften, was den anderen streng verboten war. Es konnte jederzeit im Umgang miteinander zu “Kipp-Momenten” kommen, wie sie sagt, wo ein Gespräch oder eine Begegnung in Gewalt ausartete, bei der Menschen zu Tode kamen.

Mit der Besatzung änderte sich das Leben für die Menschen grundlegend. Hierarchien, soziale Ordnungen, Werte – alles, was das Verhältnis der Menschen untereinander geregelt hatte und Verlässlichkeit bot, war nun vorbei. Tönsmeyer spricht daher von Gesellschaften unter Stress.

Gewalt war überhaupt die Grunderfahrung, die die Menschen machten. Tönsmeyer zählt den Völkermord an den Juden, Sinti und Roma auf, dazu Morde, Vergewaltigungen, Familienzerstörungen, Deportationen, Vertreibungen, Menschenjagden und Razzien. Die Liste ließe sich unschwer verlängern, meint sie.

Gleichwohl machten die Menschen unter der Besatzung durchaus unterschiedliche Erfahrungen. Tönsmeyer weist darauf hin, dass eine wohlhabende Bäurin an der Loire über andere Ressourcen verfügte als ein pensionierter Bibliothekar in Minsk oder eine polnische Jüdin, die mit ihren kleinen Kindern im Ghetto lebte und deren Mann Zwangsarbeit leistete. Juden und Jüdinnen unterlagen einer doppelten Verfolgungserfahrung, betont Tönsmeyer. Sie mussten zusammen mit der nicht-jüdischen Bevölkerung mit den Belastungen des Lebens unter der deutschen Besatzung umgehen und sie wurden genozidal verfolgt.

Die Zusammensetzung der besetzten Gesellschaft war auf einmal eine andere, stellt die Historikerin fest. Die Männer waren im Krieg oder zur Zwangsarbeit eingezogen, zurück blieben die alten Menschen, Frauen und Kinder. Gerade auf den Frauen lag eine besondere Last, denn sie waren jetzt für das Überleben ihrer Familie verantwortlich.

Die eigenen vier Wände boten keinen Schutz mehr, erklärt Tönsmeyer. Wenn sie nicht durch die Kriegsereignisse zerstört waren, dann konnten sie jederzeit von den deutschen Besatzern beschlagnahmt werden. Wohnen war also eine Herausforderung genauso wie das Heranschaffen von Nahrungsmitteln. Auch die Kinderbetreuung war überlebenswichtig.

Widerstand gegen die Besatzung konnte ganz unterschiedlich ausfallen, hat die Historikerin herausgefunden. Sie beschreibt kleine Formen des Nein-Sagens wie Hustenkonzerte während der Wochenschauen oder das Tragen von patriotischer Kleidung. Der bewaffnete Widerstand, so sagt sie, wurde eher zwiespältig aufgenommen, denn die Menschen wussten sehr genau, dass es zu Repressionen kommen konnte, die in einer Welle der Gewalt endeten.

Tönsmeyer zitiert den französischen Philosophen Jean-Paul Sartre, der sagte, die Besatzung sei ein verstecktes Gift, das Entmenschlichung und Versteinerung bewirke. Die Besatzung hat die Gesellschaften in den betroffenen Ländern zerstört, das lässt sich aus ihrem Buch erkennen und die Folgen waren über das Ende des Krieges spürbar. Zum Schluss verweist sie auf die Ukraine, wo derzeit rund 17 Prozent des Landes unter russischer Besatzung sind. Das, was man über die Auswirkungen der russischen Besatzung höre, erinnere in fataler Weise an das, wovon ihr Buch handele.