BERLIN – Rund 1,5 Millionen Muslime in Deutschland sind wahlberechtigt. Gut zwei Drittel von ihnen haben türkische Wurzeln, die übrigen stammen überwiegend aus dem Nahen Osten, aus Nordafrika und Ex-Jugoslawien. Pauschale Aussagen über ihre politischen Parteipräferenzen lassen sich kaum treffen. „Muslime haben im Großen und Ganzen keine andere politische Agenda als Nichtmuslime. Sie interessieren sich genauso für Themen wie Arbeit, Bildung, Gesundheit oder Steuern“, meint der Wahlforscher Andreas Wüst. Daneben spielten für sie naturgemäß die Chancen-gleichheit und der Schutz vor Diskriminierung eine Rolle, so der Politikwissenschaftler am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung.
Muslime – alles andere als eine homogene Gruppe
Außerdem darf eine Fokussierung auf „die Muslime“ nicht von einer homogenen Gruppe frommer Gläubiger ausgehen. Viele sind nur in der Statistik muslimisch, haben aber mit Religion im Alltag nichts am Hut – und der Islam hat folglich auch keinen Einfluss auf ihre Wahlentscheidung. Soeben hat der Religionswissenschaftler Michael Blume in seinem jüngst erschienenen Buch „Islam in der Krise“ darauf hingewiesen, dass auch unter Muslimen Säkularisierung und Glaubenszweifel massiv zunehmen – gerade in westlichen Gesellschaften.
Was das spezifische Wahlverhalten gläubiger Muslime betrifft, fehlt es aus Sicht des Sozialwissenschaftlers Wüst noch an verwertbaren Untersuchungen. Genauere Zahlen gibt es lediglich für wahlberechtigte Migranten im Allgemeinen oder einzelne Gruppen wie die türkischstämmigen Wähler.
Bei ihnen liegt traditionell die SPD mit großer Mehrheit vorn. Laut einer Umfrage des Berliner Meinungsforschungsinstituts Data4U nach der Bundestagswahl 2013 machten damals 64 Prozent der Türkei-stämmigen ihr Kreuzchen bei den Sozialdemokraten, jeweils zwölf Prozent stimmten für Grüne und Linke; die lange Zeit einwanderungsskeptische Union landete hingegen bei sieben Prozent. Die Wahlbeteiligung lag demnach nur knapp unter der Gesamtbeteiligung von 71,5 Prozent.
Für Wahlforscher Wüst ist es naheliegend, dass Muslime ihre spezifischen Interessen mehrheitlich im linken Parteienspektrum vertreten sehen, weil man dort den Forderungen von Einwanderern wie auch dem Islam offener gegenüberstehe. Daran ändere auch die prinzipiell eher konservative Mentalität der meisten Gläubigen nichts. Menschen, die in der Türkei die streng islamische AKP wählen würden, entschieden sich deshalb in Deutschland für Parteien, die die „Ehe für alle“ und Gender-Themen propagierten.
Offen bleibt, wie viele Wähler am 24. September dem Boykott-aufruf des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan folgen werden. Er hatte die Türkeistämmigen aufgefordert, ihre Stimmen nicht SPD, Grünen oder Union zu geben, denn diese Parteien seien „Feinde der Türkei“. Deutsche Politiker reagierten empört auf die Einmischung.
Noch spricht wenig dafür, dass sich die Linksbindung muslimischer Wähler abschwächt. Doch in Zeiten der Merkel-CDU könnte sich das allmählich ändern. Wüst: „Merkel hat da einen anderen Wind reingebracht, indem sie die Bedeutung der Einwanderungsgesellschaft betont. Inzwischen bemüht man sich auch in der CDU um die Muslime.“ Demnach könnten auf längere Sicht die konservativen Restbestände im CDU-Parteiprogramm die Zahl der muslimischen Unionswähler vergrößern.
Merkels Politik der offenen Grenzen, von der hauptsächlich muslimische Einwanderer profitierten, bringe aber nicht automatisch Pluspunkte bei muslimischen Wählern. „Migranten befürworten nicht unbedingt mehr Migranten“, sagt Wüst. Vielmehr würden die Glaubensbrüder auch als Konkurrenz wahrgenommen.