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Griff in die Mottenkiste

Über die Jahrzehnte hinweg ist in der Bundesrepublik in harten Auseinandersetzungen ein Kanon an politischen Werten entstanden. Im Moment scheint das alles wieder auf dem Spiel zu stehen

Die Politik in der Bundesrepublik ist geprägt von einer wunderbar demokratischen und funktionierenden Streitkultur. Es gab immer wieder legendäre Debatten im Bundestag, manchmal auch nervige Kleinkriege zwischen den Parteien. In einigen Fragen waren es nur Nuancen, die die FDP von der SPD oder die Grünen von der CSU politisch trennten. Über andere Punkte dagegen stritten Politikerinnen und Politiker heftig, bis hin zu persönlichen Angriffen bei Aussprachen oder in den Medien.

In der letzten Zeit dominieren allerdings nur noch wenige Themen die öffentliche Diskussion, die weitgehend von Parteien aus dem rechten Spektrum bestimmt werden. Viele wichtige politische und gesellschaftliche Fragen rücken dabei bedenklich in den Hintergrund.
Energiepolitik und Klimawandel zum Beispiel waren – und sind – große Themen hierzulande. Ob gelber Sack, Dosenpfand oder Elektroautos. Nicht zuletzt der Atomausstieg. Wenig davon in den aktuellen Schlagzeilen. Stattdessen müssen sich die Wähler nun mit Parolen einer Partei auseinandersetzen, die die Laufzeiten der Atomkraftwerke wieder verlängern will. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz sei ersatzlos zu streichen, ist etwa im Grundsatzprogramm der AfD zu lesen. Themen, in denen Deutschland sehr fortschrittlich und zukunftsweisend agiert, sollen zurückgedreht werden. Dazu gehört die Gleichstellung der Geschlechter ebenso wie das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung. Die Wehrpflicht wird wieder eingeführt, Euro und Europa werden abgeschafft – so der Wunsch der AfD und anderer Parteien im rechten Spektrum. Alles soll anscheinend so werden wie es vor Jahrzehnten einmal war. Der Begriff „Sozialstaat“, der für die BRD maßgeblich ist, taucht allerdings gar nicht auf. Vielmehr wird im AfD-Programm gefordert: „Mehr Kinder statt Masseneinwanderung“. Und gemeint sind damit natürlich deutsche Kinder.
Es werden Werte in Frage gestellt, die jahre- und teilweise schon jahrzehntelang einen breiten Konsens in diesem Land fanden. Deutschland ist ein Land, das sich zunehmend weltoffen, liberal, umweltbewusst, sozial und hier und da sogar humorvoll präsentiert. Manchmal staunen die europäischen Nachbarn, denn Leichtigkeit war im vergangenen Jahrhundert nicht gerade typisch deutsch. Nun aber werden Rassismus und Fremdenfeindlichkeit wieder hoffähig. Und besonders das vergleichsweise gute Ab-schneiden der AfD bei den vergangenen Landtagswahlen führt nun zu einem traurigen Effekt in der öffentlichen Diskussion: Es scheint fast egal, welche Partei man künftig wählt. Hauptsache, rechte Parteien wie die AfD werden nicht noch stärker.
Denn dann würde bald tatsächlich nicht mehr um den Klimawandel, Bildung oder soziale Gerechtigkeit gerungen, sondern nur noch um Themen aus der Mottenkiste deutscher Geschichte gestritten, die längst als überholt galten. Dabei gibt es in vielen gesellschaftlichen Bereichen so viel zu tun. Es ist ein Graus.