Wie leben Christinnen und Christen ihre Sexualität aus? Und wie wird das Thema in ihren Kirchengemeinden aufgegriffen? Die Studie “Sexuelle Einstellungen und Verhaltensweisen (hoch-)religiöser Christ*innen” der CVJM-Hochschule Kassel will das mit einer anonymen Befragung herausfinden. Mitmachen können alle Christinnen und Christen ab 18 Jahren im deutschsprachigen Raum. In unserem Interview-Format “Drei Fragen an” spricht Studienleiter Tobias Künkler über die Beweggründe und Ziele der Umfrage.
Herr Künkler, Sie schreiben, dass seit dem Start der Studie am 1. November bereits 4.000 Teilnehmende mitgemacht haben. Was sagt Ihnen das bereits jetzt über das Thema?
Tobias Künkler: Mittlerweile sind es sogar schon knapp 6.000. Das freut uns natürlich sehr und zeigt, dass ein Nerv getroffen wurde. Sexualität beeinflusst unser tägliches Leben, unsere Beziehungen und unsere persönliche Identität. Dabei ist Sexualität einerseits ein sehr persönliches, andererseits ein gesellschaftliches Thema. Die hohe Resonanz auf unsere Studie zeigt, dass auch Christenmenschen ein hohes Bedürfnis haben, sich mit dem Thema auseinander zu setzen, sich mitzuteilen, in ihrer Lebenswirklichkeit gesehen und gehört zu werden und ihrer Haltung eine Stimme zu geben.
Man könnte auch sagen, das Thema ist spannend und voller Spannungen. Und das Reden über Glaube und Sexualität ist ein vermintes Feld. Wir merken das gerade an den vielfältigen Rückmeldungen, die wir per Mail und auf Social Media bekommen. Einerseits schreibt mir eine Bibelschülerin entsetzt, dass sie mehrere Fragen zum Thema Selbstbefriedigung beantworten müsse, obwohl sie solcherlei doch noch nie praktiziert hätte.
Andere beschweren sich, dass spezifische Fetische sowie Kinks, also spezifische sexuelle Vorlieben, zu wenig vorkommen. Der eine kritisiert, dass es in der Befragung „augenscheinlich vor allem um die Frage ginge, wie gläubig Menschen mit sexueller Vielfalt und Queersein umgehen“ und der Aspekt, „dass Sex zur Zeugung führt“ zu wenig thematisiert würde. Andere sind enttäuscht, dass die „queer-christliche Perspektive“ in der Tendenz fehle und queere Christ*innen nur eingeschränkt teilnehmen können.
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Christen und Sexualität: Warum ist das so ein wichtiges, aber offenbar auch sensibles Thema?
Beides sind Themen, die den Kern dessen betreffen, was wir unsere Identität nennen. Das Thema Sexualität wirft zudem – vielleicht ganz besonders bei Christ*innen – Fragen zur Ethik und Moral auf. Wir haben den langen Schatten einer tendenziell sexualitäts- und leibfeindlichen Tradition in der Kirchengeschichte, die bis heute nachwirkt. Entweder indem diese Tradition in modernisierter Version in manchen christlichen Kontexten fortgeschrieben wird oder indem man versucht dieser Tradition zu entkommen und bei der gesellschaftlichen Avantgarde vorne mit dabei zu sein. Bevor wir die Online-Befragung erstellt haben, haben wir christliche Bücher, Zeitschriften und Socia-Media-Inhalte analysiert und genau diese Polarisierung vorfinden können.
Hinzu kommt noch, dass in den letzten Jahren Fälle von sexualisierter Gewalt in Kirchen und Gemeinden aufgezeigt hat, dass Sexualität ein wichtiges Thema ist, das dringend thematisiert werden muss. Auch weil eine fehlende Sprachfähigkeit darüber ein Risikofaktor für sexualisierte Gewalt in Kirche ist.
Was erhoffen Sie sich von der Studie, was sind die Pläne für die Ergebnisse?
Wir möchten dazu beitragen, dass Kirchen und Gemeinden sprachfähiger werden, sich bestehender Haltungen und Verhaltensweisen bewusstwerden, um diesen angemessen begegnen zu können. Es geht uns durch das Schaffen einer gewissen Transparenz auch um das Anstoßen eines bedürfnis- und realitätsorientierten Diskurses in dieser hochaktuellen, gesellschaftlich oft aufgeheizten Debatte. Wir wollen den Raum dafür schaffen, damit es versachlichte Debatten geben kann, auch über gängige Gräben hinweg. Wie schwierig das ist, zeigen die oben beschriebenen Rückmeldungen.
Vielleicht hier noch ein Beispiel. Die einen kritisieren, dass wir in den Antwortformulierungen nur binär gendern (also in den meisten Aussagen zum Beispiel von Partner/ Partnerin sprechen und nicht Partner*in oder Partner:in schreiben).
Zum anderen steht in Mails: „ich bin durch eine Zeitschrift auf die von Ihnen geplante Umfrage zum Thema Sexualität gestoßen, was mein Interesse geweckt hat. Ich beschloss, daran teilzunehmen. Ich muss Ihnen allerdings mitteilen: Daraus wird nichts! Schon im Titel der Umfrage musste ich den Begriff Christ*innen ertragen. Diesen sprachlichen Irrsinn, der Teil einer umfangreicheren Ideologie zu sein scheint, lehne ich strikt ab. Ebenso verzichte ich auf Angebote und Zusammenarbeit mit Organisationen die diese Welle des Zeitgeistes aktiv surfen.“
Tatsächlich ist es ein Anliegen der Studie möglichst sowohl sehr konservativen Christen zu erreichen, die im Genderstern das Zeichen des Biestes erblicken als auch queere und progressive Christ*innen, die kritisch auf eine „cis männliche, eher heteronormative, eher monogame Perspektive“ schauen.