Lange bevor Mutter starb, hat sie mir das Familiensilber anvertraut. Nun ja, „Familiensilber“ ist hoch gegriffen. Drei Löffel, drei Messer, drei Gabeln – Zinken verbogen. Immerhin: echtes Silber, wenn auch im Laufe von Jahrzehnten angelaufen und fast schwarz geworden. Für meine Mutter, die aus schlichtesten Verhältnissen kam, waren sie ein Vermächtnis. Auf ihrer Flucht aus Schlesien hatte sie als halbwüchsiges Mädchen so ziemlich alles zurückgelassen in den Schrecken des Krieges. Aber das Silber, das musste mit.
Und nun schleppe ich die Teile mit mir herum. Mehrere Umzüge haben sie mitgemacht. Schlummern tief im Keller. Verwendung dafür habe ich nicht. Aber weggeben, verkaufen – wie könnte ich das? Das schaffe ich nicht.
Das Herz hängt nicht an den Dingen
Andere Menschen habe andere Dinge, an denen ihr Herz hängt. Plüschtiere. Familienbibel. Klavier des Vaters. Truhe der Großeltern. Zeichnungen der Kinder. Längst überflüssig, nehmen nur Platz weg. Trotzdem behält man sie. Alles andere würde sich wie Verrat anfühlen.
Schaut man genauer hin, sind es gar nicht die Dinge, an denen das Herz hängt. Sondern Erinnerungen. Geschichten. Botschaften. Aufträge, die sich ausgesprochen oder unausgesprochen an die Dinge gekettet haben. Wie beim Silberbesteck: Du musst das Erbe bewahren! Oder beim Plüschtier: Ich war dir ein Freund in Kindertagen; jetzt, wo du erwachsen bist, kannst du mich doch nicht einfach weggeben!
Loslassen schafft Raum für Neues
Überdeutlich sieht man das bei Kirchen und Gemeindehäusern. Die Menschen gehen kaum oder gar nicht mehr hin. Aber wehe, ein Gebäude soll aufgegeben werden – dann bricht die Empörung los: Hier bin ich konfirmiert worden! Haben wir geheiratet, unsere Kinder taufen lassen, die Eltern zu Grab getragen.
Wie beim Silberbesteck: keine Verwendung. Aber loslassen geht nicht.
„Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes“, heißt es in der Bibel (Lukas 9, 62). Das mag im Blick auf Plüschtiere und Silberbesteck sehr bedeutungsschwer erscheinen. Aber die Botschaft, die dahinter steht, ist wert, auch hier gehört zu werden: Du darfst loslassen – denn Neues wartet auf dich.
Auch loslassen hat seine Zeit
Das Loslassen lernen. Nach und nach. Stück für Stück. Das kann das Leben leichter machen. Die Erinnerungen – wenn es den gute sind –, dürfen ja bleiben. Und wenn es schlechte Erinnerungen oder Botschaften sind, gibt man am Besten gleich mit ab.