Von Christian Staffa
„Ich bin katholisch getauft, evangelisch konfirmiert und gehe auch in die Synagoge.“ Mit diesen Worten stellte sich Franz von Hammerstein den Freiwilligen von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste vor. So war er: neugierig und tolerant im Glauben, netzwerkend über viele Grenzen hinweg, als das Wort Netzwerk noch kaum erfunden war.
Geboren wurde er am 6. Juni 1921 in Kassel als vorletztes Kind von Maria Freiin von Lüttwitz und Kurt Freiherr von Hammerstein-Equord. Erst Hans Magnus Enzensberger setzte in dem Buch „Hammerstein oder der Eigensinn“ zur Beschämung der Historikerzunft dem so erstaunlichen Vater Kurt Freiherr von Hammerstein-Equord (1878–1943), zuletzt von 1930 bis 1934 Chef der Heeresleitung, und auch der Mutter Maria Freiin von Lüttwitz (1886-1970) und den Geschwistern ein Denkmal.
Familie in Sippenhaft
Für unsere Vorstellungen von einem Generalshaushalt der 1920er und 1930er Jahre ging es dort äußerst liberal zu. Die älteren Töchter Marie-Luise (1908–1999), Maria Therese (1909–2000) und Helga (1913–2005), hatten bis in die NS-Zeit viele jüdische Freunde und standen dem kommunistischen Widerstand nahe. Die beiden älteren Söhne Kunrat (1918–2007) und Ludwig (1919–1996) waren Teil des späten militärischen Widerstandes gegen Hitler und überlebten nach dem 20. Juli 1944 im Untergrund. Die Eltern von Hammerstein waren der Überzeugung, dass die Kinder Freiheit und Widerspruchsgeist brauchen, um in dieser Welt bestehen zu können.
Die Familie wohnte seit 1935 in Berlin-Dahlem. Seine katholische Mutter schickte Franz von Hammerstein 1936 im Alter von 15 Jahren zum Konfirmandenunterricht zu Martin Niemöller (1892–1984), der ihn konfirmierte. Franz von Hammerstein blieb dem Pfarrhaus in der Pacelliallee Zeit seines Lebens verbunden. Als 1980 dort ein Friedenszentrum entstand, wurde er Mitglied des Vereins „Friedenszentrum Martin Niemöller Haus“ und blieb es bis zu seinem Tod.
Nach dem Attentat am 20. Juli 1944 und der folgenden Flucht seiner Brüder wurde er mit seiner Mutter und der jüngeren Schwester Hildur in Gestapo-Sippenhaft genommen. Nach der Befreiung studierte er evangelische Theologie. Er wollte Rassismus und Antisemitismus verstehen, also das Böse, das so verheerende Folgen für Europa gehabt hatte.
Zwischen 1948 und 1950 studierte er am Theological Seminary Chicago und an der „schwarzen“ Howard University Washington D. C. Nach Examen und Vikariat in Deutschland heiratete von Hammerstein die Schweizer Theologin Verena Rordorf. Von 1954 bis 1957 gingen sie zusammen als „Fraternal Workers“ (Missionare) und Austauschpfarrer in den Dienst der Presbyterianischen Kirche wiederum in die Vereinigten Staaten nach Perth Amboy und Evanston in New Jersey und Illinois. Über diese Zeit verfassten sie gemeinsam das Buch „Verantwortliche Gemeinde in Amerika“.
1957 wurde er mit der Studie „Das Messiasproblem bei Martin Buber“ in Münster promoviert. Franz von Hammerstein nahm also schon in diesen frühen Jahren Antisemitismus, Rassismus, Kirchenreform und jüdisch-christlichen Dialog als Lebensthemen in den Blick und entfaltet sie in den folgenden Jahren in allen beruflichen Feldern.
1957 wurde er in enger Zusammenarbeit mit Harald Poelchau (1903–1972) erster Leiter der Berliner Industriejugend im Evangelischen Sozialpfarramt für die Seelsorge und Sozialarbeit für junge Industriearbeiter. Mit der Gründung der Aktion Sühnezeichen 1958 – gemeinsam mit Lothar Kreyssig – nahm Franz von Hammerstein die erste und wohl wichtigste Entfaltung der beschriebenen Lebensthemen vor. Denn die evangelische Industriejugend war ein wichtiger Partner für Sühnezeichen, konnten doch dort Menschen gewonnen werden, die einen Dienst in den vom Nationalsozialismus verheerten Ländern tun wollten und auch konnten. Im Gründungsaufruf heißt es: „Des zum Zeichen bitten wir die Völker, die Gewalt von uns erlitten haben, dass sie uns erlauben, mit unseren Händen und mit unseren Mitteln in ihrem Land etwas Gutes zu tun; ein Dorf, eine Siedlung, eine Kirche, ein Krankenhaus, oder was sie sonst Gemeinnütziges wollen, als Versöhnungszeichen zu errichten.“
So entstand etwas von der Gemeinde, die Franz von Hammerstein durch seine Erfahrungen vor Augen hatte. „Die lebendige Gemeinde muss sich um diese Fragen kümmern, sie muss aus dem Gemeindeghetto heraustreten und hier Hand anlegen; denn sie ist eine Lebens- und Arbeitsgemeinschaft, die von dem Herrn der Kirche für den Dienst an der Welt eingesetzt wird. (…)“ Von der Industriejugend wechselte er 1968 dann hauptamtlich als Generalsekretär zu Aktion Sühnezeichen.
Mit Aktion Sühnezeichen entdeckte er als weiteres Thema die ausstehende Versöhnung mit den Völkern östlich von Deutschland: Polen, Tschechoslowakei und Sowjetunion.
1975 ging von Hammerstein zum Ökumenischen Rat der Kirchen, wo er sich vor allem erneut mit dem christlich-jüdischen Dialog befasste. Prophetisch, bis heute gültig und leider uneingelöst formuliert er schon im Vorfeld dieser Arbeit: „Juden können nicht Mitglieder des Weltrates der Kirchen werden, es sei denn, die Basis würde hierfür noch einmal geändert, erweitert. Aber sicher wird und kann der Weltrat nicht existieren, ohne das Judentum als wesentlichsten Gründer damals und heute ernst zu nehmen. Wenn das nicht stärker geschieht als bisher, wird der Weltrat keine geistliche Kraft ausstrahlen, sondern überwiegend Organisation bleiben.“
1978 wurde Franz von Hammerstein Direktor der Evangelischen Akademie in Berlin (West). Jüdisch-Christlicher Dialog, Dialog zwischen den Gesellschaften diesseits und jenseits des Eisernen Vorhanges ohne Vorbedingungen, der Widerstand gegen den Nationalsozialismus namentlich die Rote Kapelle, also der im Westen Deutschlands eher nicht rezipierte Widerstand, wurden zu Markenzeichen der Akademie. Franz von Hammerstein gab hier Raum für gesellschaftliche Initiativen, etwa für die Gründung der Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz, lange bevor sie 1992 Wirklichkeit wurde.
Dieses reiche Leben ist nicht leicht zu resümieren, und vermutlich ist es auch unangemessen, mit Leben resümierend umzugehen. Sehr beeindruckend ist, wie früh er, sicher geleitet und begleitet von seiner Frau Verena, Entwicklungen vorausnahm und Themenkomplexe adressierte, die damals noch nicht einmal die Ränder der Kirche erreichten.
Ergriffen von der Liebe zu Gottes Geschöpfen, zur ganzen bewohnten Welt, zur Ökumene, sah er sich als Katholik, Protestant und Jude. So warf er sich dem Leben in die Arme und liegt nun im Talar von Coventry, einer Kippa aus seiner Synagogengemeinde Hüttenweg, einer Medaille „Reconciliation“ auf der Brust und auf einem von einer Muslima (…) erstellten Kissen aus Schweizer Stickereien im Sarg. Immer mehr zum Tun, zur Nachfolge neigend, als zur hohen Christologie, ist er nun Gast im Himmel.
Veranstaltungstipp. Am So, 6. Juni, um 17 Uhr wird in der St.-Annen-Kirche Berlin-Dahlem in einer Online-Andacht des 100. Geburtstags von Franz von Hammerstein gedacht. Unter anderem mit: Pfarrerin Tanja Pilger-Janßen, Ulrike Eichler (Haus Kreisau), Marion Gardei, Rabbiner Andreas Nachama, Christian Staffa., Thomas Lutz (Topografie des Terrors). Der Link zur Teilnahme wird nach vorheriger Anmeldung über info@mnh-dahlem.de zugesandt
Christian Staffa ist Studienleiter der Evangelischen Akademie zu Berlin und Antisemitismusbeauftragter der EKD.