Noch vor der Europawahl im Juni sollen schärfere EU-Asylregeln in Kraft treten. Trotzdem werden rechtsextreme Parteien laut Umfragen zulegen. Der Chef der konservativen Fraktion im EU-Parlament will sich davon klar abgrenzen und verlangt mehr Führung.
Vier Monate vor der Europawahl schließen die Konservativen im EU-Parlament eine Zusammenarbeit mit Rechtsaußen-Parteien, die laut Umfragen zulegen, aus. Mit der AfD in Deutschland, Marine Le Pen in Frankreich, Jaroslaw Kaczynski in Polen und Viktor Orban in Ungarn sei keine Kooperation möglich, sagte der EVP-Vorsitzende Manfred Weber in einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Brüssel. Die geplanten schärferen Asylregeln seien aber richtig.
KNA: Herr Weber, die von Ihnen geführte EVP will das christliche Europa bewahren. Ihre Migrationspolitik entspricht allerdings nicht dem, was Papst Franziskus sich darunter vorstellt. Ist die kirchliche Mahnung, Europa dürfe sich nicht abschotten, realitätsfern?
Weber: Das Christentum prägt die DNA Europas, und die EVP steht zu den Grundprinzipien europäischer Flüchtlingspolitik: Wir wollen Menschen, die politisch oder aufgrund ihrer Religion oder Rasse verfolgt sind, Obdach anbieten, ebenso Menschen aus Kriegs- oder Bürgerkriegsgebieten. Diese humanitären Prinzipien wackeln für uns nicht. Ich sehe da viele Deckungspunkte mit dem, was die katholische Kirche sagt.
KNA: Sie wollen aber weniger Flüchtlinge in die EU hereinlassen.
Weber: Wir wissen, dass 60 Prozent der Menschen, die in Deutschland ankommen, keinen Anspruch auf Asyl haben. Es geht um die Kontrollen von Grenzen. Es darf nicht jeder, der das will, Grenzen überschreiten. Der größte Prüfstein ist die Frage, wie wir in unseren Nachbarstaaten Humanität durchsetzen können, also einen ordentlichen Umgang mit Menschen auf der Flucht. Das betrifft vor allem den Schutz von Familien und unbegleiteten Kindern.
KNA: Ist es für Sie in Ordnung, wenn nach dem Migrationspakt auch Zwölfjährige an der Außengrenze in Haft genommen werden dürfen?
Weber: Sie werden nicht in Haft genommen. Sie werden in Einrichtungen gebracht, in denen geprüft wird, ob sie eine Einreiseberechtigung haben. Wenn wir in das Gesetz reinschreiben, dass alle Zwölfjährigen automatisch nach Europa kommen dürfen, dann werden die Flüchtlingsboote voll sein mit Zwölfjährigen. Die Schlepperbanden werden genau diese Konsequenz ziehen. Wollen wir das? Deshalb müssen auch Zwölfjährige geprüft werden.
KNA: Sehen Sie die Humanität gewährleistet?
Weber: Wir haben klar im Gesetz verankert, dass für Minderjährige ein besonderer Umgang notwendig ist. Das muss gewährleistet sein und ist gewährleistet. Ich habe Vertrauen in die Behörden, die an der Außengrenze tätig sind. Die Beamten von Frontex, die ich erlebe, das sind Europäer wie wir. Die haben ein Herz, eine Familie, die kümmern sich, wenn Kinder ankommen.
KNA: Europa wird also nicht zur Festung?
Weber: Kein Kontinent der Welt macht derzeit so viel für Menschen in Not wie wir in Europa, wenn es um Flüchtlingsfragen geht.
KNA: Afrika beherbergt deutlich mehr Flüchtlinge und Binnenvertriebene.
Weber: Europa hat Millionen von Ukrainern und Syrern aufgenommen. Europa hat auch viele Asylbewerber aufgenommen. Der Vorwurf, Europa werde zu einer Festung, ist mit den Zahlen überhaupt nicht begründbar. Im Gegenteil. Wir bieten derzeit auf europäischem Boden so viele Menschen in Not Obdach, wie wir es noch nie vorher hatten. Ich würde mir aber auch erbitten, dass die katholische Kirche eine klare Position formuliert.
KNA: Inwiefern?
Weber: Aus dem Kreis polnischer Bischöfe beispielsweise höre ich eine andere Position als aus der Deutschen Bischofskonferenz. Für mich als katholisch motivierter Politiker wäre es hilfreich, von der katholischen Kirche in Europa ein klares Bild zu haben. Ich würde sie auch einladen, noch stärker europäisch zu denken und zu agieren. Die Kommission der Bischofskonferenzen in Europa (COMECE) sollte gestärkt werden.
KNA: Die Kirchen fordern von der Politik auch mehr Engagement zur Bewahrung der Schöpfung. Die EU-Kommission scheint nun bei der Reduzierung der CO2-Emissionen nachlegen zu wollen. Jetzt ist davon die Rede, bis 2040 um 90 Prozent gegenüber dem Wert von 1990 herunterzukommen. Unterstützen Sie das?
Weber: Wir haben ja eine CO2-Reduzierung um 55 Prozent bis 2030 und die vollständige Klimaneutralität bis 2050 vereinbart. Wir sind ambitioniert, aber das ist auch sehr anspruchsvoll. Alle Debatten über 2040, die wir jetzt führen, sind im Moment hoch spekulativ. Entscheidend ist für mich weniger, sich jetzt neue Ziele zu setzen, sondern die Menschen dabei mitzunehmen. Wir wollen zeigen, dass ambitionierter Klimaschutz und ökonomischer Erfolg zusammengehen. Wir als EVP wollen den Weg technologieoffen halten, ohne ein Verbot des Verbrennermotors, und im Dialog mit den betroffenen Menschen, etwa mit den Landwirten.
KNA: Umfragen zufolge werden bei der Europawahl rechte Parteien stark zulegen und Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberale zusammengenommen auf weniger als 50 Prozent kommen. Schließen Sie eine Zusammenarbeit mit rechtsextremen und rechtspopulistischen Parteien aus?
Weber: Mit der AfD wird es keine Zusammenarbeit geben. Ich habe als Parteivorsitzender drei Prinzipien definiert: Wer mit uns arbeiten will, muss die europäische Integration unterstützen, für Freiheit und Demokratie auf globaler Ebene eintreten – das heißt jetzt: Unterstützung für die Ukraine und für Israel, die für Freiheit und Demokratie kämpfen -, und er muss für den liberalen Rechtsstaat eintreten, die Unabhängigkeit der Gerichte, Freiheit der Medien. Nach diesen drei Prinzipien ist eine Zusammenarbeit mit der AfD, Le Pen in Frankreich, Kaczynski in Polen, Orban in Ungarn nicht möglich. Die EVP ist die Partei Europas. Wenn Björn Höcke in Deutschland sagt, dieses Europa muss sterben, dann sage ich: Ich werde Europa verteidigen mit allem, was ich habe.
KNA: Woran liegt es, dass rechte Parteien so im Aufwind sind?
Weber: Wir erleben fundamentale Veränderungen in unserer Gesellschaft in einer Dichte und Geschwindigkeit wie nie zuvor: demografischer Wandel, Globalisierung, Digitalisierung, Klimaveränderung, jetzt der Krieg in der Ukraine. Gleichzeitig wird zu wenig Führung gezeigt.
KNA: Inwiefern?
Weber: Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte Konrad Adenauer den Mut, aus der demokratischen Mitte und gegen die öffentliche Meinung den nationalen Egoismus zu überwinden und das Friedensprojekt mit den Franzosen zu beschreiten. Wenn es eine starke Führung aus der Mitte gibt, werden Populisten schwach. Von Olaf Scholz und von Emmanuel Macron sehe ich leider diese Führung derzeit nicht. Im Alltag funktioniert Europa gut, aber es fehlt der Blick über den Tellerrand, über die nächsten zehn Jahre hinaus. Deshalb entsteht viel Unsicherheit.
KNA: Wenn im künftigen Parlament die rechten Parteien stärker vertreten sind, wird die EVP dann stärker mit dem linken Spektrum zusammenarbeiten?
Weber: Nach der Wahl werden Sozialdemokraten, Liberale und Christdemokraten das Ergebnis analysieren. Das Programm für die nächsten fünf Jahre muss aus der Mitte der demokratischen Parteien kommen. Ich werbe für diesen Konsens, wenn es um die Grundsatzfragen geht. Zugleich brauchen wir jetzt im Wahlkampf lebendigen Streit. Die Ampel-Parteien setzen auch in Europa die falschen Schwerpunkte. Ich will ein Europa, das Wohlstand erhalten kann, das die wirtschaftliche Grundlage des Kontinents sichern kann. Und es gilt das größte Versprechen Europas zu halten, nämlich Friede. Das wird nur gelingen, wenn wir abwehrbereit sind, wenn auch Abschreckung wieder ein Thema ist.
KNA: Funktioniert die Aufnahme weiterer Länder in die EU bei gleichbleibendem Wohlstand?
Weber: Ich komme aus der Grenzregion zur Tschechischen Republik. Wenn Sie Menschen in Ostbayern fragen, dann ist die Osterweiterung eine ganz große Erfolgsgeschichte. Regionen wie Pilsen oder Prag haben heute ein ähnliches Wohlstandsniveau wie beispielsweise Regensburg. Aus ökonomischer Sicht ist klar: Wenn wir Länder des westlichen Balkans aufnehmen, wenn wir langfristig eine dann hoffentlich friedliche Ukraine aufnehmen, die die Beitrittskriterien erfüllt, ist das für alle eine Win-win-Situation.
KNA: Auch Bosnien-Herzegowina mit gut 50 Prozent Muslimen gehört demnach zu Europa.
Weber: Definitiv, weil Religionsfragen nicht das Kriterium sind.
KNA: Gehört der Islam zu Europa?
Weber: Der islamische Glaube ist gelebte Realität in Europa, aber was unseren Kontinent im Kern ausmacht, ist die christlich-jüdische Grundprägung. Natürlich gibt es islamische Einflüsse, aber die Grundprägung kommt aus anderen Wurzeln heraus.
KNA: Die europäische Integration wird viel Geld kosten. Agrarförderungen werden umverteilt. Was muten Sie den Bürgerinnen und Bürgern an Einschnitten zu?
Weber: Europa ist Geben und Nehmen. Es werden Aufwendungen notwendig sein, aber Deutschland wird auch massiv profitieren. In meinem Regierungsbezirk Niederbayern hatten die Bauern Angst um ihre Produktion bei einem Beitritt Ungarns und Tschechiens, heute exportieren wir Nahrungsmittel nach Ungarn. Am Ende gewinnen alle.
KNA: Unterstützen Sie eine zweite Amtszeit von Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin?
Weber: Ursula von der Leyen hat einen guten Job gemacht, und in der EVP sind wir stolz, dass wir sie haben. Die Bewerbungsfrist läuft. Sollte Ursula von der Leyen sich entscheiden, anzutreten, ist sie in der absoluten Pole-Position für die Spitzenkandidatur.
KNA: Vor vier Jahren ist Großbritannien aus der EU ausgetreten. Viele Briten halten das inzwischen für einen Fehler. Wäre es nicht eine Idee, ihnen eine Hand zu reichen für eine Rückkehr?
Weber: Eine Rückkehr in die EU ist kein Thema, aber ja, wir müssen die Hand reichen, beispielsweise für den Aufbau eines gemeinsamen europäischen Verteidigungspfeilers. Wir sollten das mit Großbritannien, mit Norwegen gemeinsam denken. Natürlich muss die EU vorangehen, etwa bei der Schaffung eines gemeinsamen Marktes für Rüstungsgüter, aber wir sollten Großbritannien einladen, mitzumachen. Jetzt ist die Zeit, ein neues Kapitel aufzuschlagen.
KNA: Eine Rüstungswirtschaft befürworten Sie; auch eine Kriegswirtschaft?
Weber: Unser Nachbar Russland hat auf Kriegswirtschaft umgestellt. Viele hatten gehofft, dass nach dem Zusammenbruch des Kommunismus eine neue Zeit anfängt, dass Imperialismus und Ideologien keine Rolle mehr spielen. Aber es gibt Kräfte, die Grenzen und die Integrität von Ländern in Frage stellen, und zwar mit brutaler Waffengewalt. Deswegen: Ja, Europa muss sich leider wieder mehr bewaffnen, Europa muss verteidigungsfähig sein. Wenn es um die Sicherheit Europas geht, dürfen wir auch nicht von anderen so abhängig sein wie heute. Wie wir im Rahmen des Binnenmarkts für alle möglichen Güter einheitliche Standards definiert haben, müssen wir das jetzt auch bei Rüstungsgütern machen, um effizienter zu arbeiten.
KNA: Gestartet ist die EU als Friedensprojekt, jetzt ist sie dabei, eine Rüstungsgemeinschaft zu werden. Ist das nicht ein bitterer Schluss?
Weber: Das allererste Projekt, das Adenauer, de Gasperi und Schuman angestoßen haben, war die Idee der Verteidigungsgemeinschaft – die dann in der französischen Nationalversammlung gescheitert ist. Das wichtigste Ziel war immer, Frieden, Freiheit und Sicherheit in Europa zu garantieren. Wir kommen also eigentlich zurück zu den Wurzeln. Wenn die Europäer ihre Verteidigung gemeinsam in die Hand nehmen oder irgendwann miteinander eine Armee haben, können wir, wenn es nötig ist, unsere Werte auch robust vertreten in den Konflikten dieser Welt. Wir dürfen nie eine Militärmacht werden, die interventionistisch oder imperial auftritt. Das wäre ein Verrat an den europäischen Werten. Aber die Stärke Europas ist die Grundlage dafür, unseren European Way of Life zu sichern und in die Welt hinauszutragen.