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Evangelische Kirche streitet um Waffenlieferungen an die Ukraine – immer noch

Sind Waffenlieferungen ethisch vertretbar? Darüber diskutiert die evangelische Kirche seit dem 24. Februar 2022 mehr denn je. Sie muss ihr Verhältnis zu Krieg und Frieden neu bestimmen. Eine Analyse.

Über Krieg und Frieden diskutiert die evangelische Kirche
Über Krieg und Frieden diskutiert die evangelische KircheImago / SNA

Die Theologin Margot Käßmann, bekannt geworden durch ihr „Nichts ist gut in Afghanistan“-Diktum, ist immer noch eine populäre Stimme in der evangelischen Kirche. Das wurde jüngst durch ihre Unterschrift unter die Petition von Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht und Publizistin Alice Schwarzer für Verhandlungen im Ukraine-Krieg noch einmal deutlich. Käßmann, die seit jeher eine pazifistische Grundhaltung vertritt, schloss sich damit der Forderung noch dem Ende von Waffenlieferungen an die Ukraine und einer Verhandlungslösung in dem völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg an.

Doch die Position der ehemaligen hannoverschen Landesbischöfin und Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ist mitnichten die einzige innerhalb der evangelischen Kirche. Die hannoversche Regionalbischöfin Petra Bahr schrieb als Reaktion auf die Petition bei Twitter, sie halte es für verwerflich, die eigene Sehnsucht nach Frieden rücksichtslos vor das Leid der Menschen in der Ukraine zu stellen. Auch Bahr, die dem Deutschen Ethikrat angehört, hat sich schon früher für die Legitimität von Waffenlieferungen ausgesprochen.

Innerkirchliche Debatte

Der permanente politische Streit über Waffenlieferungen ist zum Kristallisationspunkt für die innerkirchliche Debatte über die Ethik von Frieden und Krieg geworden. Spätestens seit dem 24. Februar 2022, dem Beginn des russischen Angriffskriegs, spinnt die Debatte über die Rechtmäßigkeit und ethisch-moralische Vertretbarkeit von deutscher Unterstützung durch Waffenlieferungen in der evangelischen Kirche neue Fäden.

Im November 2022 beschloss das Kirchenparlament der EKD daher, die bis dato jüngste Denkschrift der EKD zur Friedensethik aus dem Jahr 2007 zu prüfen. Ein neues Gremium, die sogenannte Friedenswerkstatt, soll bis 2025 einen neuen Grundlagentext erarbeiten. Das Gremium traf sich erstmals im Januar in Berlin. Offen ist bislang, ob der neue Grundlagentext eine Erweiterung der Friedensdenkschrift wird oder doch in eine gänzliche Neufassung mündet. Beobachter der Debatte wie der Wiener Theologe Ulrich Körtner haben immer wieder eine Überarbeitung gefordert.

Die Denkschrift „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“ entstand unter maßgeblicher Initiative des damaligen EKD-Ratsvorsitzenden, des Theologen und Sozialethikers Wolfgang Huber. Das Konzept des „gerechten Friedens“ ist zentraler Gedanke und Ausdruck eines „Verantwortungspazifismus“, wie es Huber bezeichnet. Die Denkschrift stellt klar, dass zur Wahrung und Wiederherstellung des Rechts auch der Einsatz militärischer Gewalt ethisch legitimierbar ist, militärische Mittel seien aber nur als ultima ratio einzusetzen. Es gelte der Primat der friedlichen Konfliktlösung. Dadurch versuchte der Text die seit jeher widerstreitenden Positionen der prinzipiellen Pazifisten und die der Verantwortungspazifisten, kurz gesprochen: die der Käßmanns und die der Bahrs, zu harmonisieren.

Wie viel Pazifismus ist angebracht?

Huber ist auch heute davon überzeugt, dass die Denkschrift nicht ausgedient hat. Der 80-Jährige betonte im vergangenen Sommer im Gespräch mit dem epd, zwar sei der Vorbildcharakter einer persönlichen Entscheidung zur Gewaltlosigkeit zu respektieren, diese Gewaltlosigkeit zur unumstößlichen Maxime eines ganzen Landes zu machen, heiße aber gegebenenfalls, nicht nur für sich, sondern auch für andere auf das Selbstverteidigungsrecht zu verzichten. Die Alternative zur Gewaltfreiheit sei nicht Nichtstun, betonte Huber.

In der Spitze der EKD ist man sich jedoch nicht einig, wie viel Pazifismus in der gegenwärtigen Diskussion um Waffenlieferungen in die Ukraine angebracht ist, ohne zynisch zu wirken. Während der EKD-Friedensbeauftragte Friedrich Kramer kaum eine Chance auslässt, sich gegen Waffenlieferungen zu positionieren, betont die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine und unterstützt Waffenlieferungen – wenngleich mit Unbehagen.

Der Theologe Körtner fordert, die Friedensethik müsse sich viel stärker an den geopolitischen Realitäten ausrichten. Die Denkschrift habe etwa die Macht des Völkerrechts überschätzt. Am russischen Angriff auf die Ukraine sehe man, dass das Völkerrecht nur dann funktioniere, wenn es von allen Staaten anerkannt werde. Die Denkschrift beantworte die Frage nicht, was geschehe, wenn das Völkerrecht nicht durchsetzbar ist. „Die Sprachregelung, allenfalls von rechtserhaltender Gewalt im Rahmen von UN-Mandaten zu sprechen, hat zu einseitig auf die Vereinten Nationen gesetzt und die realpolitischen Schwächen des Völkerrechts nicht genügend bedacht.“ Körtner sieht es daher als nötig an, die evangelische Friedensethik einer Generalüberholung zu unterziehen.