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„Es zählt jeder Schritt“

Mediziner ermuntern ältere Menschen: Bewegt euch mehr. Dabei muss es bei Weitem kein anstrengender, schweißtreibender Sport sein. Schon ein halbstündiger Spaziergang steigert das Wohlbefinden enorm und hat viele gesundheitliche Vorteile

Mediteraneo - stock.adobe.com

Bei vielen alten Menschen ist es ein gängiger Spruch: „Sport ist Mord.“ Damit wird die Tatsache gerechtfertigt, dass man ab einem gewissen Alter meint, sitzend und ohne körperliche Aktivitäten durchs Leben zu kommen. Ein gefährlicher Trugschluss, wie Ärzte und Wissenschaftler betonen.

Inaktivität im Alter berge ähnlich wie das Rauchen ein hohes „Mortalitätsrisiko“, warnte die Sportwissenschaftlerin und Gerontologin Ellen Freiberger. Zu Deutsch: Wer sich nicht bewegt, stirbt wahrscheinlich früher. Durch Mobilität könne hingegen „vielen altersbedingten Krankheiten“ vorgebeugt werden, sagte die Privatdozentin am Institut für Biomedizin des Alterns in Nürnberg. Es zähle buchstäblich „jeder Schritt“.
Freiberger gehörte zu den Referenten beim 12. Patiententag vor Kurzem in Wiesbaden, der von der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) mit der Stadt Wiesbaden veranstaltet wurde. Der Schwerpunkt des Patiententages lag in diesem Jahr auf der sogenannten Altersmedizin.

Ärzte würden Bewegung als Pille verschreiben

Die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind längst noch nicht in der Breite der Bevölkerung angekommen. Viele Menschen wüssten nicht, „welche positiven Effekte bereits ein täglicher Spaziergang von circa 30 Minuten hat“, sagte Freiberger. „Wenn Bewegung eine Pille wäre, wäre es das meistverschriebene Medikament“, fügte sie hinzu.
Die Empfehlung für 70-jährige „Couch Potatos“ (Stubenhocker) lautet: Man sollte sich 150 Minuten pro Woche bewegen, also etwa eine halbe Stunde pro Tag. Etwas flapsiger, aber dennoch ernst gemeint, hieß es: „Führen Sie Ihren Hund spazieren – auch wenn Sie keinen haben.“
Zwar gebe es auch den fitten 80-Jährigen, der im Verein noch regelmäßig Tennis oder Tischtennis spielt. Doch generell gelte laut Studien, dass die über 65-Jährigen bis 80-Jährigen ihren Tag zumeist sitzend verbringen. „Der überwiegende Teil der alten Menschen sitzt“, formulierte die Gerontologin Freiberger. Der Anteil der „sich bewegenden Bevölkerung“ sei „fast verschwindend gering im höheren Alter“.
Und Statistiken zufolge werden die Deutschen immer älter. Aufklärung und Prävention seien daher auch „angesichts des demographischen Wandels immer wichtiger“, betonten die Initiatoren des Patiententags. Mit zunehmendem Alter steige nämlich das Risiko für einen medizinischen Notfall. Im Schnitt seien 21 Prozent der in die Notaufnahme eingelieferten Patienten Senioren, die unter Herzproblemen leiden oder einen Sturz hinter sich hätten.
Philipp Bahrmann, Chefarzt an der Asklepios Paulinen Klinik in Wiesbaden, sagte: „Wir sehen in der Notaufnahme sehr häufig ältere Patienten.“ Viele hätten Bluthochdruck. Auch bei diesen sei „körperliche Bewegung das A und O“. Regelmäßiges Gehen könne auch einem weiteren Alters-Risiko vorbeugen: dem Stolpern und Stürzen. „Mit einem Sturz beginnt bei älteren Menschen oft eine Abwärtsspirale“, berichtete Norbert Schütz, Chefarzt der Medizinischen Klinik Usingen und Organisationsleiter des Patiententages.
Die Sportwissenschaftlerin Freiberger bietet beim Patiententag eine „Gang-Analyse“ auf einem mit Sensoren ausgestatteten langen Teppich an. Damit sei es möglich, anhand der Schrittmuster von Probanden zu erkennen, ob bereits ein erhöhtes Sturzrisiko bestehe. „Viele ältere Menschen kriegen schleichende Veränderungen in ihrem Gang gar nicht mit“, so Freiberger.

Zuhause bleiben schützt nicht vor Stürzen

Biomedizinische Studien wiesen zudem darauf hin, dass „Gehen im Alter nicht mehr automatisiert abläuft“. Es brauche dazu „kognitive Anteile“, also bewusstes gedankliches Steuern. Deshalb – so der Expertenrat – sollten alte Leute „aufmerksam“ unterwegs sein und sich nicht so leicht ablenken lassen. Auch übertriebene Angst vor einem Sturz sei ungut. Ein Irrglaube sei es zudem, dass man nur draußen stürzen könne: 60 Prozent der Stürze von alten Menschen passieren in der Wohnung oder deren Umgebung.