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“Erinnerung an deutsche Verbrechen wurde verlacht”

Bei der Wahl eines Abiturmottos an der Gießener Liebigschule wurden auf einem anonymen Portal antisemitische und rassistische Ideen geäußert, darunter sollen Vorschläge wie „NSDABI – Verbrennt den Duden“ oder „Abi macht frei“ gemacht worden sein. Die Projektleiterin der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Hessen (RIAS Hessen), Susanne Urban, sagt: Das hätte an jeder Schule geschehen können.

epd: Frau Urban, wie schätzen Sie die Vorfälle an der Gießener Liebigschule ein?

Susanne Urban: Dass für ein Abimotto Sprüche eingereicht wurden, die nationalsozialistische Triggerworte verwenden und mit bestimmten Bildern spielen – ein Buch zu verbrennen oder das Tor zu Auschwitz und dem KZ Dachau ins Gedächtnis zu rufen – zeigt, dass es ganz bewusst geschehen ist. Erinnerung an die deutschen Verbrechen und die Orte des Terrors wurden verlacht und relativiert.

epd: Was sagt es aus, dass es an einem Gymnasium passierte?

Susanne Urban: Das hätte an jeder Schule geschehen können. Wir wissen doch, dass die Forderung nach einem Schlussstrich unter die Erinnerung an die Schoah und NS-Verbrechen bei 38 Prozent liegt, laut neuester Umfragen. Wir sehen doch, was alles sagbar geworden ist. Antisemitismus als Brückenideologie zwischen allen politischen und gesellschaftlichen Milieus ist sichtbar. Eine rechtsextreme Partei hat enorme Zugewinne. Niemand soll glauben, dass vermeintlich gebildete Menschen frei sind von all diesen Positionen.

epd: War die Reaktion des Schulleiters richtig, in die Öffentlichkeit zu gehen?

Susanne Urban: Das ist schwierig zu bewerten. Die Schüler des gesamten Jahrgangs müssen sich nun rechtfertigen. Es muss geschaut werden, wer das initiierte. Und ja, es sollte auch reagiert werden. Zudem muss sich auch die Schule fragen, wo ihre Verantwortung liegt. Ich hoffe, dass jetzt nicht wieder kommt, man müsse umgehend alle Schüler in Gedenkstätten entsenden. Ohne Rahmung und pädagogisches Konzept hilft das überhaupt nichts.

epd: Welche Ansatzpunkte sehen Sie, damit Schulen und Lehrer besser mit solchen Vorfällen umgehen können?

Susanne Urban: Lehrerinnen und Lehrer müssen befähigt sein, mit antisemitischem oder rechtsextremem oder antiziganistischem Gedankengut umzugehen. Sie müssen adäquat ausgebildet werden. Es braucht zum Beispiel verpflichtende antisemitismuskritische Module in der Ausbildung und ebensolche Fortbildungen. Es braucht Reflexionsräume über die eigene Position zur NS-Zeit. Schulen können auch Experten von Beratungsstellen oder von RIAS Hessen einladen.